Hier haben wir noch ein Schmusebild, und zwar eins, wo die Zärtlichkeit des Kindes von der Mutter unmittelbar erwidert wird: Maria im Prunkbett im Tympanon des Turmhallenportals. Es ist nicht zu leugnen, seit dem Lukasevangelium mit seinem gefühllosen Verkündigungsbericht hat sich die Sicht der Beziehung zwischen dem Gott und seiner Braut-Mutter nachhaltig geändert, und zwar auf Grund eines rein literarischen Problems und seiner originellen Lösung.
Das literarische Problem war folgendes: Sowohl im jüdischen wie im christlichen Kanon der vorchristlichen Bibel findet sich ein Text, der sehr schön ist, aber überhaupt nicht zur übrigen Bibel passt. Er handelt nicht von Gottes Gesetzen und seinen Grosstaten und den Missetaten seines Volkes und ähnlichem. Er ist lebensdralle Liebeslyrik: Das „Hohe Lied“. Und da sagt er zu ihr unter anderem: „Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, die Zwillinge einer Gazelle, die unter Lilien weiden“ (3,5) und „Deiner Hüften Rund ist wie Geschmeide“ (7,2). Da die Bibel in bestimmten Kreisen als Brief Gottes an die Menschen galt und gilt, stellte und stellt man sich die Frage: Was hat Gott in diesem Büchlein mitteilen wollen? Sicher nicht (nur), wie schön Sulamith ist, die für ihren Freund tanzende „Schwester Braut“, meinte man.
Die Antwort folgt, so meint der spottende Tor, einer Logik, die sich in christlichen Kreisen durchhielt bis in das Berlin der Kaiserzeit und die der kleine jüdische Moritz, der in eine christliche Schule ging, bestens kannte. Als er gefragt wurde, was das sei, es sei rotbraun, springe von Baum zu Baum, habe einen buschigen Schwanz und knacke Nüsse, sagte er: „Eigentlich würde ich sagen, es ist das Eichhörnchen, aber wie ich den Laden hier kenne, ist es sicher wieder das kleine Jesulein.“ (Frei nach Salcia Landmann) Nach dieser Logik war das Alte Testament in christlicher Sicht im wesentlichen dazu da, Jesus als Messias vorzubereiten und vorherzusagen. Folglich konnte das „Hohe Lied“ nur von Jesus Christus handeln. Der Freund, der über die Berge zu seiner Angebeteten hetzt, kann nur Christus sein. Die Rolle der Geliebten wurde unterschiedlich besetzt, teils mit der personifizierten Kirche, teils mit der einzelnen Gott suchenden Seele, teils und besonders mit der Jungfrau Maria. Und das Ganze mit besonderer Begeisterung für Maria in der Mystik des Hochmittelalters. Und so schlägt die un-menschliche, technische Beziehung Gottes zu der Frau, die er anheuert, damit sie ihm einen Embryo austrägt, um in die Beziehung eines liebenden Gottes zu seiner „schönen Freundin“, wie sie im „Hohen Lied“ genannt und beschrieben wird. Das ist nicht nur Dogmenentwicklung, das ist Dogmenfortschritt, meint der Ministrant.
Die nächste Miniatur am nächsten Wochenende: Nikolaus von Myra I