Das heutige Bild ist eine Scheibe aus dem Schmiedefenster im nördlichen Seitenschiff. Es gehört zu einem vierteiligen Zyklus rund um die Menschwerdung Gottes. Drei Szenen stammen etwa aus dem Jahr 1320; neben dieser hier zeigt die eine die Verkündigung, die andere die Flucht nach Ägypten. Eine Scheibe ist von Fritz Geiges im Jahr 1923 ergänzt worden. Sie zeigt den Besuch Marias bei ihrer Cousine Elisabeth.
Der Ministrant erklärt das Bild in der Redaktionskonferenz. Erst referiert er, was man so oder leicht anders in allen Münsterführern lesen kann: Maria liegt bequem neben ihrem Baby an der Krippe. Dahinter stehen, wie üblich, Ochs und Esel. Der Ochse ist ein verfressener Sack. In seiner Gier erwischt er zusammen mit einem Maul Heu auch die Windel des Kindes und reisst es hoch in die Luft. Maria streckt erschreckt die Hände aus, und ein rot gekleideter Hl. Josef haut das Vieh mit seinem Stock auf die empfindliche Nase, was jeden Tierfreund schmerzt. Und hier sagt der Ministrant: „Diese Interpretation ist sehr schön, aber auch sehr falsch.“ Er hat nämlich im „Konradsblatt“ Ende 2017 einen Artikel von Hans-Wolfgang Strätz gelesen, der ihn überzeugt hat. Die Argumente von Strätz sind u.a.: Direkt neben dem Bild des Gekreuzigten in der Mitte des Schmiedefensters ist ein Juxbild nicht denkbar. Die Scheibe ist Teil einer Bildergeschichte, in der Maria immer gleich gekleidet ist und sich ähnlich sieht, damit sie wiedererkennbar ist. Entsprechend kann der rote Mann nicht Josef sein, denn der auf dem Flucht-nach-Ägypten-Bild eindeutig als Josef identifizierbare Mann ist anders gekleidet. Der Ochse hat kein Heu im Maul, sondern hält nur das eine Ende des Tuches fest.
Des Rätsels Lösung finden wir im schon einmal zitierten Pseudoevangelium des Matthäus aus dem frühen 7. Jahrhundert: „Sie (=Maria) legte den Knaben in eine Krippe; Ochs und Esel huldigten ihm. Da ging in Erfüllung, was der Prophet Jesaja gesagt hatte: ‚Es kennt der Ochse seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn‘. Die Tiere nahmen ihn in ihre Mitte und huldigten ihm ohne Unterlass. So erfüllte sich der Ausspruch des Propheten Habakuk: ‚In der Mitte zwischen zwei Tieren wirst du bekannt werden.‘“ Der rote Mann ist der Prophet Jesaja, der den Ochsen nicht haut, sondern auf ihn zeigt. Und der Ochse reisst das Kind nicht weg von seiner Mutter, er hält es ihr vorsichtig hin. Sie streckt ihm die Hände entgegen, um es behutsam aufzunehmen. Es ist kein Ort oder keine Zeit angebbar, wo die Szene spielt; sie umfasst Weihnachten genau so wie die Verkündigung durch den Engel. Es wird keine Geschichte erzählt, sondern eine Wahrheit ausgesprochen: Das Kind ist der Frau = Maria = der Kirche geoffenbart und geschenkt durch den Gottesgeist. Er hat in Jesaja gesprochen, vermittelt durch die beiden Tiere, die Jesaja geweissagt hatte. So gesehen, meint der Ministrant, ist das Bild fast noch schöner. Er kann halt nicht aus seiner Haut.
Und am nächsten Wochenende geht’s nachweihnachtlich weiter mit dem Schwarzen König Caspar.