Flucht nach Ägypten

img_2202

Eine wunderschöne Scheibe aus dem Schmiedefenster im nördlichen Seitenschiff des Langhauses, um 1320 entstanden. Maria sitzt im Damensitz auf dem Esel und hält ihr Wuschele mit beiden Händen an sich gedrückt. Josef führt den Esel und ist selber wie ein solcher bepackt.

Bekanntlich waren die Weisen aus dem Morgenland gekommen, dem Jesuskind als dem neugeborenen König der Juden zu huldigen (Mt. 2). Sie hatten dem König Herodes versprochen, auf der Rückreise bei ihm vorbei zu schauen; sie wollten ihm sagen, wo sich das Kind befinde. Der hatte aber ganz Schlimmes mit dem Kind vor, wollte sozusagen Karfreitag auf Dreikönig vorverlegen. Deswegen bekamen sie von ganz oben die Anweisung, ihr Wort nicht zu halten. Der böse König Herodes kriegte so nicht raus, wo das gute Königskind versteckt war. Und deswegen veranstaltete er dann sein bekanntes Babymassaker an den unschuldigen Kindern von Bethlehem. – Diese sitzen jetzt bekanntlich auf den kleinen Schäfchenwolken am Sommerhimmel – alter Theologenwitz: Wie kann man von hier unten erkennen, auf welchem Wölkchen ein Junge und auf welchem ein Mädchen sitzt? (Lösung bitte in die Kommentarzeile eintragen.) Die armen Kerlchen und ihre Mütter – Kollateralgeschädigte der Heilsgeschichte, wie der Ministrant nachdenklich meint. Und Josef packte seine Siebensachen und seine Kleinfamilie auf seinen Buckel und den Esel und floh mit ihnen nach Ägypten, was man auf unserem Bild sehen kann. Aufgrund der Vernetzung seiner Patchwork-Familie hatte ihn ein Engel rechtzeitig gewarnt.

An dieser Stelle der Redaktionssitzung wurde der historisch-kritische Bibelleser etwas unruhig und meinte, so wörtlich dürfe man das Ganze nicht nehmen; das eigentliche Massaker sei eher nicht so ganz historisch. Er führte aus: Das Jesuskind musste irgendwie nach Ägypten reisen, auch wenn es nie dorthin gereist ist mangels Grund, und diese Reise konnte man auf diese Weise gut begründen. Und dorthin musste es, weil es von dort zurückkehren musste, um eine angebliche Prophezeiung des Propheten Hosea zu erfüllen. Durch diese Prophezeiung wurde schon das kleine Jesuskind als Sohn Gottes vorgestellt; sie war ein weiterer Beweis dafür, dass Jesus kein gottloser Revoluzzer war, der den jüdischen Glauben pervertieren wollte, sondern der Erfüller des Alten Bundes.  Denn Gott sagt bei Hosea (11,1): „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“ Gott bzw. Hosea hat allerdings nie und nimmer vom kleinen Jesulein prophezeit. Er sprach vom auch nicht so ganz historisch sicheren Auszug des Volkes Israel aus Ägypten, rückblickend. Dabei hat er dieses Volk als „Sohn“ Gottes bezeichnet, was öfters im Alten Testament passiert. Das hat der Verfasser des Matthäusevangeliums als implizite, erst im Lichte der Ereignisse um Jesus als solche wahrnehmbare Prophezeiung über Jesus interpretiert.

Da  hakte der Tor nach: Ein (nicht erfolgter) multipler Kindermord lässt das Jesuskind (nicht) nach Ägypten fliehen, damit es von dort (nicht) zurückkehren kann, um eine (nicht erfolgte) Prophezeiung zu erfüllen, die es als Sohn Gottes erweisen soll. Er fragte, wer da wen für stockdoof verkaufen wollte. Der Ministrant verbat sich diese Ausdrucksweise, und der Historisch-Kritische meinte, das sei eben eine zeitbedingte Argumentationsform, die wir Heutigen nicht ohne weiteres nachvollziehen könnten.

Und am nächsten Wochenende wird es sündhaft.

 

2 Kommentare zu „Flucht nach Ägypten

  1. Aber hat denn Herodes nicht NUR alle Knaben töten lassen? Er müsste doch keine Mädchen töten, denn die Prophezeiung hat von dem Sohn (nicht von der Tochter) Gottes gesprochen?
    Somit sitzt auf dem Wölkchen kein Mädel, oder…?

    Like

  2. Natürlich haben Sie recht, sehr verehrte Frau Rickert, weder beim Kindermord noch bei der anschliessenden Plazierung auf den himmlischen Sommerwölkchen wurde auf eine adäquate Frauenquote geachtet. – Es war eine Fangfrage, mit der die höheren Semester die Neuankömmlinge in der Theologie geärgert haben; ich bin auch promt darauf herein gefallen und habe mich geärgert. Herzlichen Dank für Ihre Rückmeldungen!

    Like

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s