Die Täubchen-Madona

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Manche sagen, die Figur sei nicht auf dem hohen künstlerischen Niveau der meisten anderen Vorhallenkunstwerke. Ich finde sie allerliebst, wie sie da im rechten Gewände steht. Sie ist eine „Verkündigung“, und als solche scheint sie mir eigenartig. Sonst majestätische oder demütige, aber immer imponierende Engel im Gespräch mit der Frau, und der Bräutigam, falls überhaupt erwähnt, irgendwo in der Luft, ätherisch angedeutet wie eine sommerliche Libelle und fast unsichtbar, eben göttlich; oder pfeilschnell wie ein Habicht auf die Mutter des künftigen Kindes herab schiessend; aber immer über ihr.

Und hier der majestätische Engel abseits, und der Bräutigam sehr sichtbar, ganz real, und sehr klein vor ihr, auf gleicher Höhe mit ihr, und sie schaut ihn zärtlich an. Wie der Wellensittich früher auf dem Finger meiner Tochter; gleich nimmt sie Sonnenblumenkerne zwischen die Lippen, und er wird behutsam die Körner herauspicken. Aber wenn ich richtig sehe, ist unsere Täubchen-Madonna die Realisierung eines Bildtyps, der erst im Barock, also mehr als zwei Jahrhunderte später, einige Verbreitung gefunden hat: „Maria, Braut des Hl. Geistes“. Auf derartigen Bildern hat Maria ihren Täuberich auf oder gar in der Hand, und er trägt im Schnabel einen Ehering für seine Dame.

Es ist ähnlich wie beim Wilhelm Tell: Der war mit seiner Armbrust, mit der er seinem Sohn den Apfel vom Kopf und den Landvogt Gessler aus dem Leben schoss, seiner Zeit weit voraus. Denn die Armbrust wurde erst 100 Jahre nach Tell erfunden. Wie das Rätsel um Tells Vorzeitigkeit gelöst werden könnte, weiss ich nicht. Bezüglich der Täubchenmadonna habe ich mit grosser Enttäuschung etwas Interessantes gelesen: Das Täubchen ist nicht original mittelalterlich, sondern eine Hinzufügung etwa aus dem Jahr 1827, veranlasst von der von 1819 bis 1835 tätigen „Verschönerungskommission“ des Münsters. Schön sind die beiden trotzdem, auch wenn beide Hände der jungen Frau falsch ersetzt worden sind. In der einen hatte Maria vermutlich ein Buch, denn als Tempeljungfrau i. R. konnte sie sehr gut nicht nur die Bibel lesen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Miniatur der nächsten Woche widmet sich einer theologisch wenig bedachten Randfigur der frühesten Kirchengeschichte, dem bedauernswerten Malchus.

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