Links unten im Turmhallentympanon sieht man die Szene: Judas hat seinen Herrn auf die Backe geküsst; jetzt weiss der Scherge des Hohenpriesters, wer von den dunklen Gestalten dieser Jesus ist, der Rädelsführer, den er verhaften soll. Er packt ihn beherzt am Kragen, und der römische Soldat leuchtet ihm mit seiner Fackel. Judas hat seinen Job zur Zufriedenheit seiner Auftraggeber erfüllt. Jesus tut so, als wäre er überrascht. Aber das ist geschwindelt, hat er ihm doch wenige Stunden zuvor ins Gesicht gesagt, dass er weiss, was der andere vorhat (Mk 14,18). Und er scheint enttäuscht zu sein von seinem untreuen Freund.
Aber eigentlich hatte Judas einen zweiten Auftraggeber im Hintergrund: Mit seinem Deal mit den jüdischen Honoratioren brachte er das gottgewollte Erlösungswerk Christi entscheidend voran. Trotzdem hatte Judas eine überwiegend schlechte Presse. Alle vier Evangelien lassen keinen guten Faden an ihm: Er verrät seinen Meister, bei Lukas und Johannes, weil der Satan von ihm Besitz ergriffen hatte; bei Matthäus und Johannes aus Geldgier; bei Johannes hatte er zuvor schon sehr lange Finger und sowieso schon tief in die Gemeinschaftskasse gegriffen. Laut Markus meinte Jesus, wie er seinen Verrat vorhersagte, es wäre besser für ihn, er wäre nie geboren worden (Mk 14,21). Gleichzeitig wird sein Verrat als heilsnotwendig dargestellt. Ein bisschen befremdlich, wie der Gehilfe des göttlichen Plans in die Hölle verfrachtet wird.
Allerdings gibt es das sogenannte Judas-Evangelium, eine gnostische Schrift vermutlich aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts, die in koptischer Übersetzung vor einigen Jahren gefunden wurde. Ob sie für Judas Partei ergreift, gilt als fraglich, weil die Übersetzung sehr viele Fragen aufwerfe. Fraglos für Judas ist das „Toledot Jeschu“, eine spätestens ab dem 8. Jhdt. aufgetauchte, ursprünglich wohl aramäisch geschriebene jüdische „Geschichte Jesu“. Sie lässt an Jesus keinen guten Faden. Andererseits schildert sie Judas als aufrechten Mann, der den Zauberer und Volksverführer Jesus der Gerechtigkeit überantwortete.
Aber vielleicht ist die ganze Debatte für die Katz. Vielleicht gab es den Verrat des Judas gar nicht und die Geschichte ist eine Erfindung des frühestchristlichen Antijudaismus: Judas als Symbolfigur für den Verrat des ganzen jüdischen Volkes an seinem Messias. Unlängst hat Gerd Lüdemann, so etwas wie ein Hans Küng der evangelischen Kirchen, diese These wieder neu formuliert.
Wie dem auch sei, mit Judas ging es nicht gut aus; von seinem schrecklichen Ende berichtet die nächste Miniatur am nächsten Wochenende.