Hier kann man ihn noch erblicken, den armen, bösen Judas Iskarioth, den Verräter Jesu. Die reizvolle Personengruppe mit ihm als Protagonisten befindet sich ganz unten links im Tympanon der Turmhalle. Sie bildet eine ergänzende Episode im Leben Jesu, links von der Szene mit dem Judaskuss. Er baumelt schauerlich am Ast, an dem er sich selbst aufgehängt hat, wie das Evangelium des Matthäus (27,5) berichtet. Das Blutgeld, 30 Silberlinge exakt abgezählt, fällt ihm aus der toten Hand. Aber seine Eingeweide quellen heraus, was eigentlich für Erhängen untypisch ist. Das kommt daher, dass in der Apostelgeschichte (1,18) der Tod des Judas anders erzählt wird: Er habe einen Unfall gehabt, sei gestürzt, und dabei sei das Malheur mit dem Gedärm passiert. Unser Künstler kombiniert beide Sterbensweisen optisch eindrücklich erbaulich-abschreckend. Und da hängt auch nur noch sein seelenloser Körper; seine Seele tragen schon zwei putzig-schauerliche Teufelchen aufgespiesst in die Hölle. (Der posaunenblasende Engel links und der schwertschwingende Petrus rechts gehören nicht zu dieser Episode.)
Wie es mit Judas weiterging, hat Dante in seiner „Göttlichen Komödie“ beschrieben, 20 oder 30 Jahre nach unserem Tympanon. Hier steckt Luzifer als Tief- und Kernpunkt der Hölle in der gottfernsten Mitte der Erde in ewigem Eis, das von keinem Klimawandel bedroht ist. Wie ein Meteorit ist er hier eingeschlagen bei seinem Sturz aus himmlischen Höhen. Sein Kopf trägt drei Fratzengesichter – Nachäffung der Dreifaltigkeit Gottes. Jedes der drei Gesichter kaut auf ewig auf einem der drei schlimmsten Schurken der Weltgeschichte herum. Das eine kaut Brutus, das zweite Cassius, die beiden Cäsarmörder, die sich an der heiligen Ordnung des Römischen Reiches versündigt haben. Sie hängen mit den Köpfen nach aussen. Der dritte Erzsünder hängt mit dem Kopf nach innen in Satans Schlund , ewig zermahlen zwischen Satans unermüdlichen Kiefern, und heisst Judas Iskariot.
Die beiden Judasszenen befinden sich im untersten Bilderband des Tympanons, wo das Leben Jesu in exemplarischen Szenen von Anfang und Ende geschildert wird. Die rechte Hälfte des Bandes wird von der Menschwerdungsgeschichte ausgefüllt, die linke Hälfte ist der Passion gewidmet, wobei die Kreuzesszene zwei Etagen höher separat behandelt wird. Was nun für diese linke Hälfte an Einzelszenen ausgewählt wurde, ist sehr bezeichnend: Ganz links unser Bild vom erhängten Judas; dann eine Doppelszene von der Gefangennahme, nämlich erst am Rande des Geschehens der schwertschwingende Petrus, der die Gruppe um Jesus verteidigen will, mit dem ohramputierten Malchus und dann die eigentliche Verhaftung, dominiert vom Verratskuss des Judas; und schliesslich als drittes Bild die Auspeitschung Jesu. Das heisst: Judas nimmt in dieser Darstellung der Passion einen unverhältnismässig grossen Raum ein. Der Theoretiker dieses Tympanons war vom Verrat des Judas und vom Verrat der Juden, die sich im Tympanon ja aktiv an der Gefangennahme beteiligen, umgetrieben. Etwa 60 bis 70 Jahre später fand in Freiburg das schreckliche Judenprogrom von 1349 statt. So zugerichtet waren die Juden der optimale Blitzableiter für die panische Angst Freiburgs vor der Pest.
Am nächsten Wochenende das Bild von einer der erfreulichsten Frauen der Kirchengeschichte, aber immer noch voller Leid und Schrecken.