Aus unterschiedlichen Gründen ist dieses Foto eines der Lieblingsbilder unseres Ministranten und unseres spottenden Toren. Beide wollten es in der Redaktionskonferenz kommentieren. Die Figuren befinden sich im Tympanon der Turmhalle, in der zweituntersten Zeile, wo am Ende der Tage die Toten auferstehen, ziemlich weit links. Das heisst, vom Kruzifix in der Mitte, dem Zentralpunkt der Bildkomposition her gesehen, sind sie rechts, wo die Gerechten weilen. Die zwei, ein Ehepaar, wie vermutet wird, gehören also zu den auferstehenden künftigen Seligen.
Der Ministrant ist ein unverbesserlicher Romantiker. Er findet es wunderschön, wie dieser Mann seiner geliebten Frau, sie zärtlich unter die Arme fassend, in die zweite, unendliche Hälfte ihrer liebevollen Zweisamkeit hilft. Und der Mann vergisst in diesem schönen Augenblick nicht, wem er dieses Glück verdankt: Er blickt zurück nach oben zum Gekreuzigten in der Mitte des Tympanons.
Der Tor ist von etwas ganz anderem fasziniert, von der Unterhose des Mannes. Die Madonnen, Engel und Heiligen sind sehr häufig ganz prächtig gekleidet, und da stellt sich doch wie beim schottischen Kilt die Frage: Was haben die da drunter an? Hier hat er endlich die Antwort: Eine Unterhose. Ein seltenes Dokument hochmittelalterlicher Mode. Denn nur wenige Gestalten im Münster sind in pseudo-historisierender Art gekleidet, etwa Jesus bei der Gefangennahme eine Zeile tiefer im Tympanonbild. Die anderen erscheinen in zeitgenössischer Kleidung des Hochmittelalters. Die Besucher des frisch gebauten Münsters sehen die Heiligen und die Sünder in der Kleidung ihrer eigenen bürgerlichen und adligen Welt.
Die Situation ist klar: Bei der Auferstehung war er etwas flinker. Und man ersteht zwar nackt auf, zieht sich aber dann gleich sittsam an, wenn man zu den Gerechten gehört – die Sünder auf der anderen Seite des Tympanons flegeln splitternackt herum, ohne sich mit Anziehen zu beeilen. Aber er hat schon mal die Unterhose angezogen. Und da kommt sie auch nach; warum so spät, ist unerfindlich, hatte sie doch im Grab noch keine Klamotten oder Accessoires, zwischen denen sie wählen musste. Natürlich begnügt er sich mit seiner „Bruoch“, wie dieses Kleidungsstück damals hiess, und lässt Unterhemd und „Cotte“, die als nächstes dran sind, liegen, um ihr zu helfen und selig nach all der langen Zeit im kalten Grab ihren geliebten warmen Leib zu fühlen.
Die Miniatur der nächsten Woche beschäftigt sich pfingstlich mit der ungleichen Verteilung von Heiligem Geist.