An der Nordseite des Turms, in Höhe der Uhr und neben dem Heiligen-Kollegen Bernhard von Clairvaux, steht der Hl. Sigismund seit etwa 1290/1300; inzwischen ist das Original durch eine Kopie ersetzt. Von Beruf war er König von Burgund bis zum Jahr 524. Auf dem Haupte trägt er als König und Heiliger eine Krone, die seit Jahren schon als Basis eines stattlichen Vogelnests dient. In der Hand hält er ein Schwert, weil er durch ein solches in den Himmel kam.
Sigismunds Heiligkeit ist eher von befremdlicher Art. Er verdankt sie seiner zweiten Frau. Seine erste Ehe ging er sehr jung ein, mit gut 20 Jahren; seine Gattin war Areagne, Tochter des Ostgotenkönigs Theoderich; anderen Texten zufolge hiess sie Ostrogotha. Sie gebar ihm einen Stammhalter und Thronfolger namens Sigerich sowie eine Tochter. Für die Sterbeverhältnisse der damaligen Zeit hielt diese Ehe ziemlich lange, so etwa 20 Jahre, dann starb Areagne oder Ostrogotha. Sigismund war kein Kind von Traurigkeit und heiratete bald wieder, nämlich die Konstanze, die ihm vielleicht schon länger gefallen hatte, wie unser Tor spekuliert, war sie doch eine Dienerin oder, wie andere schreiben, Hofdame der verstorbenen Areagne.
Von den Löwen Afrikas berichtet man folgendes: Wenn ein Löwe eine alleinerziehende Löwin als Partnerin übernimmt, beisst er erst mal ihren Nachwuchs tot. Das macht er, um seinem eigenen geplanten Nachwuchs freie Bahn zu schaffen, wie die Soziobiologie zu berichten weiss. Sigis‘ zweite Gattin war von gleichem Gemüt. Sie bat ihn inständig, doch den männlichen Nachwuchs aus erster Ehe zu beseitigen. Wie sie ihre Bitte argumentativ unterstrich, ob im Bett, am Küchenherd oder durch generelle Übellaunigkeit, ist in seiner Heiligenbiografie nicht vermerkt, wohl aber, dass sie den jungen Mann als Hochverräter – Konspiration mit dem Grossvater Theoderich – anschwärzte. Jedenfalls konnte sie ihren Sigi überzeugen und legte so den Grundstock zu seiner Heiligkeit: Er engagierte Spezialisten, die die Erbfolge in ihrem Sinne bereinigten. So weit, so gut. Aber jetzt traten laut Biografie zwei unerwartete Faktoren auf: Die verärgerte Verwandtschaft der verstorbenen ersten Gattin hielt sich zurück, als die Franken eine alte Rechnung begleichen wollten, und schwerste Schuldgefühle traten angeblich beim Mördervater auf. Letztere bewogen den Sünder, zwecks eines Büsserlebens sich zeitweilig in das von ihm gegründete Kloster von St. Maurice d’Agaune (Wallis) zu begeben, was ihm auch die Möglichkeit gab, sich dort zu verstecken. Erstere, also die Franken, fanden ihn trotzdem, nahmen ihn gefangen, verschleppten ihn, schlugen ihm im Jahr 524 den Kopf ab und warfen alles in einen Brunnenschacht und seine Zweitfamilie hinterher. Andere Zeiten, andere Sitten. Sympathien sind teils irrational, teils politisch gesteuert, und so fand auch er posthum Sympathisanten. Die ersten waren Mönche des von ihm gegründeten Klosters St. Maurice, die drei Jahre nach seinem Tod seine Gebeine bargen und in ihr Kloster überführten. Man argumentierte folgendermassen: Als büssender Christ war er geläutert, und wenn er in diesem Zustand einen gewaltsamen Tod erfuhr, war er ein Märtyrer. Sei’s drum, sein Märtyrertum und damit seine Heiligkeit setzten sich durch, auch wegen Heilungen als Folge von Messfeiern für Fiebernde in seinem Namen. Das Redaktionsteam nimmt an, dass auch eine Rolle spielte, dass das Königreich Burgund 8 Jahre nach seinem Tod schliesslich von den Franken besiegt worden war und seine Selbständigkeit verloren hatte – das Schicksal des von den Franken gemordeten Märtyrer-Königs exemplarisch für sein Land.
Aber wie kam seine Figur als Heiliger aus dem fernen Burgund an unser Münster? Zum einen war er im 11. Jahrhundert gerade im Gebiet der heutigen Schweiz und Süddeutschlands sehr populär geworden. Zum anderen hatten die Zähringer Herzöge, die Gründerväter unseres Münsters, einen engen Bezug zu Burgund: Seit 1127 führten sie den Titel „Rector Burguntiae“ und hatten die Herrschaft im östlichen Teil von Hochburgund, der heutigen Westschweiz, inne. Diese Beziehung endete 1218 mit dem Tod des letzten Zähringers, aber sie könnte nachgewirkt haben bei der Auswahl der Heiligen für den Turm etwa 70 Jahre später.