Nein, das ist kein hübsches Kind. In seinen Kinderwagen würde man nicht zum zweiten Mal schauen. Das täte man nur, um sich zu vergewissern, dass der erste Blick nicht getrogen hat, dass höchstens seine Mutter und seine Grossmütter es niedlich finden könnten. Der Bildhauer konnte auch anders, das zeigt das anmutige Antlitz seiner Mutter, der Sternenkleidmadonna. Warum kriegt dann das Jesuskind einen Kugelkopf, Henkelohren und einen leicht debilen Gesichtsausdruck? Ich habe nichts dazu gefunden in den schönen Münsterbüchern. Meine Phantasie ist: Auf Anweisung seines theologischen Beraters wollte er ausdrücken, dass Jesus ein ganz normaler Mensch war und ist wie du und ich. Wir sind ja auch keine ausgesprochenen Schönheiten, ich zumindest nicht. Zwar wahrer Gott, den man aber als solchen nicht porträtieren kann, aber eben auch wahrer Mensch. Für seine Mutter galten ganz andere Massstäbe. Sie ist ja die Braut, nein, denn mit Bräuten haben ordentliche Leute keine Kinder, die Frau Gottes, was allerdings niemand so sagt. Und sie musste wunderschön dargestellt werden, weil sie wunderschön war und ist und immer sein wird. Ach wir Armen.
Eine etwas andere Interpretation ergibt sich, wenn man das, was Morsch über die Trumeaumadonna mit ihrem Kind sagt, auf unser Kind überträgt: Dort hat die reiche Frau das arme Kind im Arm, womit gezeigt ist, dass die Kirche – Maria – die erlöste Menschheit reich geworden sind, weil Gott arm wurde.
Der Ministrant hat das Thema zwischenzeitlich mit einer jungen Frau erörtert, die etwas von der Sache versteht, einer der Kunstgeschichtsstudentinnen, die am Münster in charmanter Weise zwischen den Belangen des Münsters und denen der Besucher vermitteln. Sie meinte, es wäre in solchen Fällen nicht immer definitiv auszuschliessen, dass das Köpfchen gar nicht original wäre.