Herr Welt

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Er lächelt seit etwa 1270-1280 von seinem Podest herab in die Turmhalle an der nördlichen Innenseite der Turmwestwand, unmittelbar neben dem Portal. Auf den ersten Blick ist er der Traumschwiegersohn: Von der Natur bevorzugt, was wohlgestalte Enkelkinder erwarten lässt, sehr kultiviert und nach neuester Mode gekleidet und gestylt – feines Untergewand, darüber ein eleganter Surkot, französische Haartracht und ein Blütenschapel um den Kopf, feine Handschuhe, wie Morsch in seinem Turmhallenbuch uns erläutert – und damit auch gut betucht, und er hat vollendete Manieren: Mit bezauberndem Lächeln und anmutiger Geste begrüsst er uns mit einer Rose. Er ist unwiderstehlich – solange wir ihn nur von vorne sehen. Aber die Rückenansicht – sie entsetzt uns und lässt uns unsere Töchter ganz schnell weg und in Sicherheit bringen: Denn der Rücken ist gespickt mit Ungeziefer aller Art, mit hässlichen Kröten und widerlichen Schlangen. Wer ist dieser gegensätzliche Herr?

Gemeinhin wird er als „Fürst dieser Welt“ bezeichnet, und das ist Satan, der (oberste) Teufel. Diese Bezeichnung ist falsch; Satan steht gegenüber im Tympanon, nicht schön, sondern unüberbietbar hässlich, wie alle Teufelsdarstellungen im Münster. Das hier sei „Mundus“, wie Morsch uns erklärt, aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt kann man sagen „Herr Welt“. Aber das ist befremdlich: Die in des Wortes doppelter Bedeutung eitle „Frau Welt“ kennt man, Minnesänger haben sie klagend besungen und in Worms steht sie in ihrer vordergründigen Pracht und hintergründigen Verderbtheit am Dom. Wie kommt es in Freiburg zu dieser Geschlechtsumwandlung? Das ist ganz einfach: Die Minnesänger dachten deutsch, ihre irdische Realität war als „die Welt“ weiblich; die theologischen Ideengeber der Freiburger Turmhalle, ebenso wie ihre Kollegen vom Strassburger und Basler Münster, die dieselbe Figur beherbergen, dachten lateinisch und lebten folglich im männlichen „Mundus“, den sie in Männergestalt darstellen liessen.

Herr Welt an dieser Stelle hat eine eindringliche Botschaft: Die frommen Münstermessbesucher haben beim Rausgehen zur Rechten leuchtende Beispiele, denen sie bis zum nächsten Sonntag und darüber hinaus folgen sollen: die klugen Jungfrauen und hochkarätige Heilige. Aber dann, unmittelbar bevor sie das heilige Haus verlassen, knallt ihnen in Gestalt des betörenden Herrn Welt die Erinnerung an die ständige Gefahr, vom rechten Weg abzukommen, ins Gesicht.

In Basel ist die unmittelbare Adressatin des Herrn Welt eine der törichten Jungfrauen. In Freiburg hat er nichts mit denen zu tun, hier spricht er uns, die Kirchgänger, unmittelbar an. Und in Basel ist die Dame sehr entgegenkommend und zieht schon einmal einen Reissverschluss an ihrem Kleid auf. Dieser sexuelle Aspekt des Mundus fehlt in Freiburg, für diesen Bereich ist hier eine hochkompetente Spezialkraft engagiert. Ihr werden wir uns in der nächsten Miniatur zuwenden.

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