(Für Leute mit Migrationshintergrund, aus Gelsenkirchen oder Dresden oder so: amtssprachlich heisst das „das böse Mädchen“.)
Sie ist kein Mädchen, sondern eine stattliche Maid. Sie ist des Toren Lieblingsfigur im ganzen Münster, wen wunderts. – Seine sexistische Bemerkung über ihre nicht gerade üppige Oberweite bei unserem morgentlichen Brainstorming haben wir mit einer vielsagenden Sprechpause demonstrativ überhört. – Fast unbemerkt steht sie seit etwa 1290 in der Nordwestecke der Turmhalle, neben dem Herrn Welt, in ganz schwachem Licht oder im Gegenlicht.
Frau Krummer-Schroth meinte, sie „lächle lieblich“. Das schrieb sie vor der Grossputzete ab dem Jahr 1999, als der Dreck des letzten Jahrhunderts noch wie ein glättendes Make-Up ihre Züge zukleisterte. Inzwischen wurde sie schon zweimal gnadenlos abgeschminkt, und jetzt sieht man: Sie lächelt nicht, und lieblich ist sie eigentlich auch nicht. Das schmälert aber ihren – zugegeben ruchlosen – Charme nicht wesentlich.
Einig sind wir in der Redaktionskonferenz in der Auffassung, dass sie die uns rätselhafteste Gestalt des ganzen Münsters ist. Gut, ihre Aufgabe ist klar, sie bildet zusammen mit dem Herrn Welt eine „Verführungsgruppe“, wie Morsch sie nennt. Dabei spielt sie offenbar den Part der sexuellen Verführung, wie ihr Outfit nahelegt. Aber für diese Aufgabe hätte es gereicht, wenn sie einfach barfuss bis zum Hals hingestellt worden wäre. Aber was soll ihr Umhang, ein Bocksfell, wie die daran hängenden Hufe zeigen, und was soll dieser unterkieferlose Steinbockschädel, den sie an der linken Hüfte hat? Linksseitig hält sie den Fellumhang mit ihrem linken Ellenbogen am Körper, wie die Trumeaumadonna gegenüber auch ihren Mantel hält; die Madonna hält auf dem linken Arm ihr Kind, das böse Mädchen hält einen Huf ihres Bocksfells so, dass die Figur als jugendfrei ab 16 gerade noch durchgeht. Wer ist sie?
Dazu gibt es unterschiedliche Vorschläge. Seit dem Jahr 1604 hatte sie genau wie ihr Kollege Herr Welt einen Namen zu Füssen aufgemalt: Sie hiess „Voluptas“, Wollust. Morsch meint, diese Bezeichnungen seien nicht original, im Falle des Herrn Welt sicher falsch. Der Historisch-Kritische meint, auch „Wollust“ passe nicht. Wollust, sagt er, ist eine Sünde, und Sünden sind hässlich, wie die Hauptsünden hoch oben am Turm unterhalb des Helms deutlich zeigen. Sie aber ist attraktiv. (Zugegeben, die moderne Wollust dort ist ganz hübsch; aber da hat der kopierende Steinmetz ganz schön geschummelt, das Original im Augustinermuseum ist es weit weniger.) Dann wird sie in der Literatur gelegentlich der Welt der Hexen zugerechnet, was auch nicht stimmen kann. Zum einen wurden die Hexen erst ab etwa 1350 erfunden, zum anderen hat erst Hans Baldung Grien etwa um 1520 verführerische Hexen gemalt, bis dann waren sie hässlich. Sie aber ist schön. Schliesslich meint man, Fell und Schädel des Steinbocks seien Attribute des Teufels und verwiesen darauf, dass sie seinem Machtbereich zugehöre. Aber auch das ist nicht stimmig: Ich habe in der Turmhalle im Tympanon über dem Innenportal sieben Teufel gefunden, und keiner hat Hörner oder Bocksfüsse; sie sind in grosser zeitlicher Nähe zu unserem Maidli entstanden und dürften die – noch sehr undefinierten – Teufelsvorstellungen der verantwortlichen Theologen und Bildhauer wiedergeben. Erscheinungsweise und Outfit der Dame und die Herren Teufel haben keinerlei Parallelen. Wer ist sie dann?
Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir sie parallel sehen zu ihrem Nachbarn, dem Herrn Welt, mit dem sie ja gemeinsam die „Verführungsgruppe“ bildet. Er ist die lockende Welt als Objekt des Begehrens insgesamt, aber seine Kehrseite mit den Schlangen und Kröten offenbart des Pudels Kern. Auch sie ist Objekt des Begehrens und nicht etwa Symbol der Begierde, und zwar des sinnlichen Begehrens. Und jetzt ist ein Attribut zu erwarten, das auch ihren fatalen Kern offenbart. Das dürften Bocksfell und Bocksschädel sein. Denn das arme Tier hat in der christlichen Tradition einen sehr schlechten Ruf, es gilt als Testosteronbomber und damit als Inbegriff der Voluptas, der Wollust. Das Fell – und nicht die Frau – stellt die Wollust dar. Das heisst, mit unserem Mädchen sich einzulassen bedeutet Todsünde.
Bleibt immer noch die Frage, wer die Dame selbst ist. Der Historisch-Kritische meint, sie ist das Weib an sich und als solches, das ja in damaliger Zeit in bestimmten Mönchskreisen als „deformiertes Männliches“ galt und seit Eva im Paradies als Quell aller Sünde. Der Ministrant hat eine andere, etwas befremdliche Idee. Er liebt Wagneropern. So ist ihm Tannhäuser bekannt und seine verhängnisvolle Gespielin Frau Venus, die ihn im Venusberg der Verdammnis entgegengeniessen lässt. Für ihn ist unser Maidli die Frau Venus. Sicher ein etwas aberwitziger Vorschlag. Aber allenthalben kann man lesen, diese Geschichte von der im Christentum und in deutschen Landen zur Dämonin umgeschulten göttlichen Frau Venus sei wohl im 13. Jahrhundert entstanden, sodass die Turmhallentheologen sie gekannt haben können. Ferner hat die Göttin Venus in der antiken Mythologie einen halben Zoo an tierischen Begleitern, und ein Ziegen- bzw. Steinbock ist auch dabei, auf dem sie gelegentlich reitet. Somit könnten Bocksfell und Bocksschädel für den damaligen informierten Betrachter den wahren Charakter dieser verlockenden aber dämonischen Frau enthüllt haben. Haben wir in unserem bösen Maidli die wirkliche Freiburger Venus entdeckt? – Fragen über Fragen. Wer hilft uns?
Und hier die beiden zusammen, wie sie in der Nordwestecke der Turmhalle ihr Unwesen treiben, und neben ihnen ein Engel, der vor ihnen warnt: