Hoch oben im Gewölbe des Eingangsraums innerhalb der Schöpfungspforte befindet sich dieser Schlusstein, etwa 70 cm gross. Ihn ziert das Bild einer gutgekleideten, üppig braungelockten jungen Dame, die lesend da kniet, während ein ziemlich dicker Vogel sich anschickt, auf ihrem Kopf Platz zu nehmen. Das sieht halb bedrohlich, halb komisch aus, wie der Tor bemerkt. Natürlich wissen wir gleich, wer das ist: Maria in dem Augenblick, in dem der Heilige Geist bei ihr folgenschwer vorbeischaut; jetzt endet ihre kurze Jugend. Eigentlich hat sich der Heilige Geist damals gar nicht blicken lassen und hat nur den Erzengel Gabriel sichtbar vorgeschickt, aber damit auch die etwas beschränkteren Christen (bei dem, was die sich zur Zeit von ihren Hierarchen bieten lassen, sind das so ziemlich alle, wie der Tor meint) kapieren, was abgeht, hat der Steinmetz die Geisttaube hinzugefügt.- Besagter Erzengel Gabriel ist auf dem Schlussstein des Gewölbes des Chorumgangs vor dem unmittelbaren Eingangsbereich dargestellt. Er war das Thema unserer letzten „Miniatur“.
Maria wird bei der Lektüre gestört, erklärt uns Phöbe, unsere Teilzeitredaktions-praktikantin. Vor sich hat sie ein geniales Vielzweckmöbel für im Tiny House, enorm platzsparend: Betschemel, Lesepult und Bücherschrank in einem. Sie liest in der Heiligen Schrift nach – natürlich hat sie nur das Alte Testament zu Verfügung, das Neue war damals im Frühjahr des Jahres 6 v.Chr. noch nicht publiziert -, was über sie dort prophezeit ist. Sie kann nämlich lesen, und deswegen tut sie das und wird seitdem auf sehr vielen Darstellungen der Verkündigung mit einem Buch dargestellt. Das hat sie in den etwa 9 Jahren gelernt, als sie als so etwas wie eine Tempeljungfrau am Jerusalemer Tempel beschäftigt war. (Vermutlich war sie die einzige in der ganzen Heilsgeschichte, die diesen Job innehatte.) Ihre Eltern, Mutter Anna und Vater Joachim, hatten aufgrund von höchst wundersamen und wunderbaren Ereignissen um ihre Schwangerschaft und Geburt gemerkt, dass mit diesem Kind etwas nicht so war wie bei anderen. Dass es sogar unbefleckt empfangen war, wussten sie allerdings nicht. Und deswegen musste das Kind auf alle Fälle sauber bleiben. Behufs dieses Zweckes gaben sie das dreijährige kleine Mädchen dem Jerusalemer Tempel und seiner Priesterschaft in Obhut.
Das war damals ohne Gefährdung des Kindswohls möglich, ergänzte der Historisch-Kritische, weil es noch ziemlich genau 1988 Jahre dauern sollte, bis in der Folge der 1968er Bewegung erst die Moral der Gesellschaft und dann auch die einiger verrirrter Mitglieder der kirchlichen Elite „an den Arsch ging“, wie der Historisch-Kritische sehr unfein sagte. Dass das und nicht ungesunde Gegebenheiten und Strukturen der Kirche den Nährboden für diese stinkenden „Blumen des Bösen“ ab gab, hat uns dankenswerter Weise Ex-Papst Benedikt XVI. geoffenbart. Und das stimmt sicher, meinte der Tor; denn ein Ex-Papst ist sicher genau so unfehlbar wie ein funktionierender. Verrentung eines Papstes kappt nicht die Online-Verbindung zum Heiligen Geist. Und so waren wir uns alle einig, dass Klein-Maria um das Jahr 20 v.Chr. in dieser kirchlichen Einrichtung sicher war.
Phöbe erzählte weiter, wie Maria dann, als sie in die Pubertät kam, aus Gründen kultischer „Reinheit“ zwölfjährig aus dem Tempel rausflog und flugs mit einem verwitweten, herzensguten, uralten, impotenten und folglich begierdefreien Mann zwangsverlobt und dann zwangsverheiratet wurde, um so ihre Reinheit auf Dauer zu stellen. Aber das will sie bei anderer Gelegenheit näher ausführen, wenn es mal wieder um den Hl. Josef geht. Auf jeden Fall hat Maria so lesen gelernt. Woher Phöbe das weiss? Aus dem „Protoevangelium des Jakobus“. Das ist ein bemerkenswert alter Text, wohl aus der Zeit um 150 n.Chr. Er informiert uns dankenswerter Weise über das Leben Marias sehr genau und füllt so die bedauerlichen Wissenslücken über unsere Promimutter, die die spärlichen Informationen der offiziellen Evangelien lassen.
Der Schlussstein stammt wie auch sein Partner mit dem Erzengel Gabriel (s. letzte Miniatur) etwa aus dem Jahr 1515, und die Bemalung auch aus den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts.