Ein anmutiges Bild, auch wenn es im Laufe der vergangenen 680 Jahren bei mehrmaligem Ortswechsel und Restaurierungen etwas gelitten hat. Schade, dass man es kaum sieht, hoch oben im Obergaden des Mittelschiffs, schwer zu fotografieren (und hier etwas gestaucht wegen der extremen Untersicht). Es zeigt Anna, die Frau Joachims, mit ihrer spät und wunderbar doch noch gekommenen Tochter Maria auf den Händen, die dann ihrerseits Jesus zur Welt bringen wird. Mutter und Tochter sind aufgrund ihrer Kinder aufs Höchste geadelt, sind gekrönte Häupter. Über die Verwandtschaftsverhältnisse Marias sind wir nicht aus der Bibel informiert, sondern aus dem sogenannten Protoevangelium des Jakobus, einer frommen Schrift aus dem 2. Jahrhundert. Die kleine Maria hat einen Vogel auf der Hand.
Wenn das Jesuskind, wie oft dargestellt, einen Vogel auf der Hand sitzen hat, meinen wir Laien sofort, das sei eine Taube und damit der Heilige Geist. Denn bei der Taufe Jesu im Jordan ist bekanntlich derselbe in dieser Gestalt über denselben herabgekommen. Aber das ist häufig nicht der Fall, beispielsweise bei der Pestsäulenmadonna vor dem Hauptportal unseres Münsters, da hat das Jesuskind einen Distelfink auf der Hand mit ganz eigener Symbolik.
Auf diesem Bild scheint es sich aber wirklich um den Hl. Geist zu handeln, zum einen weil Frau Mittmann in ihrem Glasfensterbuch das sagt, und zum andern, weil der Vogel einen Heiligenschein hat.
Auf Marias rechter Hand sitzt also die Geisttaube, mit der linken fasst sie ein Buch an, das Mutter Anna hält. Maria hat eine hohe Affinität zu Büchern, denn als so etwas wie eine Tempeljungfrau war sie gebildet und belesen. Dieser Job war im alten Israel nicht gerade häufig, vermutlich war sie sogar die einzige, die ihn je ausübte. Davon wissen wir auch aus dem sogenannten Protoevangelium des Jakobus, in dem ein kleines bisschen zu viele Engel agieren, als dass man es für historisch aussagekräftig halten könnte. .
Die ganze Redaktionskonferenz einschliesslich Phöbe, unsere Teilzeitredaktionspraktikantin, besteht aus Kunstbanausen. Uns fehlt der Überblick. Vielleicht liegt es nur daran, dass wir diese Darstellung für bemerkenswert halten: Nicht Maria, die verkündigte, über die der Geist herabkommt, sondern das Kind Maria mit dem Geist-Vogel auf der Hand als wäre er ihr Spielgefährte. Sollte jemand von euch, liebe Besuchende unserer „Miniaturen“, aus vorbarocker Zeit eine vergleichbare Darstellung kennen, wären wir für die Nennung sehr dankbar.
300 Jahre später findet sich im Barock häufig ein scheinbar verwandtes Motiv: Die erwachsene Maria mit der Geisttaube auf der Hand, im Arm, auf dem Schoß, die manchmal sogar einen Ring für sie im Schnabel trägt. Die Bilder zeigen „Maria, die Braut des Heiligen Geistes“. Theologisch gesehen ist dieser Ehrentitel natürlich Schwachsinn, denn wie schon die 11. Synode von Toledo im Jahr 675 erklärt hat, ist der Heilige Geist nicht der Vater von Jesus, das ist vielmehr Gott-Vater, mit dem Maria aber auch nicht verlobt war. Maria war Braut des Hl. Josef und vermutlich danach seine Frau. Und ihr Kind hat sie, wie gesagt, von Gott-Vater. Was der Heilige Geist in dieser Patchworkfamilie darstellt, darüber zerbricht sich die Redaktionskonferenz noch die Köpfe. Phöbe schreibt vielleicht ihre Bachelorarbeit darüber.