Wer in der Gotik schön sein wollte, musste ein leichtes Doppelkinn haben. Dieser Herr ist schön. Aber mehr als 99 von 100 Münsterbesuchern sehen ihn nicht, denn er hält sich bescheiden im dunkelsten Nordwesteck der wunderschönen Turmhalle des Münsters auf. Mit zwei weiteren Figuren bildet er eine der schönsten und bemerkenswertesten Figurengruppen des ganzen Münsters. Seine Kollegen und GegenspielerInnen dort sind zum einen der „Mundus“, der „Herr Welt“ mit all seinen Verlockungen zur Sünde, zum andern eine verführerische, fast nackte Frauengestalt, die als „Voluptas“, „Wollust“ bezeichnet wird, aber das scheint mir nicht ganz zuzutreffen; mir kommt die Assoziation an die „Frau Venus“ aus der Tannhäusersage; jedenfalls ist sie von Grund auf schlecht und zur schlimmsten aller Sünden verlockend. Und unser schöner Engel steht daneben und warnt vor beiden mit seinem Spruchband: „Ne intretis“, „Geratet nicht (in Versuchung)“; er ist ein „Warnungsengel“, wie Dieter G. Morsch ihn in seinem schönen Buch über die Turmhalle nennt. Die drei stehen da als Warnung für den frommen Beter. Der kommt aus der erbauenden Sonntagsmesse in die verlockend-verführerische Alltagswelt zurück, und da hat er in der Vorhalle zur Rechten leuchtende Beispiele der Tugend, die klugen Jungfrauen und diverse hochkarätige Heilige. Aber unmittelbar vor Verlassen der bergenden Mauern stehen da die beiden Bösewichte. Die Steinmetze bläuen uns förmlich ein: Bleibt immer wachsam, die Verführung lauert überall. Aber auch der Mutmacher ist da, der Engel, der mahnt und sagt: Du bist nicht allein gegenüber all den Verlockungen, Gott schützt dich mit der Kraft seiner Engel. Dieser Engel lächelt uns Mahnung, Zuversicht und Mut zu seit etwa 1290.
Gotischer Charme
Veröffentlicht von nikolaussidler
Lange Jahre Professor für Soziologie an der Kath. Hochschule Freiburg i. Br., Dr. phil, Dr. theol., inzwischen Rentner Alle Beiträge von nikolaussidler anzeigen
Veröffentlicht