
Einen Kranken besuchen, das tut die Dame hier auf dem Bild, die personifizierte Barmherzigkeit. Und sie begegnet dabei, wenn man Jesus (vgl. Mt 25,34ff) glauben will, ihrem Gott und Erlöser. Das Foto zeigt eine der sechs wunderschönen Scheiben des romanischen Barmherzigkeitsfensters, entstanden in den Jahren um 1250. Es befindet sich im Radfenster des nördlichen Querhauses.
Es war eine sonderbare Männergesellschaft, von der uns der Historisch-Kritische nach der Diskussion dieses Bildes in sehr lockerer Assoziation erzählte. Jeder der daran Beteiligten hatte seine Eigen-Arten. Da war zum Beispiel Manni. Er regte sich sehr schnell auf und reagierte dann bisweilen ziemlich unangemessen. Ferner war er sehr fromm. Beides war wohl im Zusammenhang zu sehen mit einem Zusammenstoss, den er auf seinem Moped mit einer Strassenbahn gehabt hatte – schweres Schädel-Hirn-Trauma. Einmal wurde das Ansinnen an ihn herangetragen, doch bitte seine Medikamente einzunehmen. Das regte ihn sehr auf und er begann, lauthals zu schimpfen. Da trat Andi in Erscheinung . Seine Eigen-Art war, dass er keine besonderen Eigenarten hatte. Er war sympathisch, intelligent, immer freundlich, zuvorkommend und hilfsbereit; wie er es mit der Religion hielt, ist nicht bekannt. Er ging hin zu Manni und sagte ganz ruhig: „Bitte nimm die Medizin, Manni. Du weisst doch, der liebe Gott will das.“ Manni beruhigte sich schlagartig und nahm die Tabletten, es brauchten keine Pfleger mit Zwangsmassnahmen einzuschreiten, und es herrschte wieder Ruhe auf Station E der psychiatrischen Klinik in B. Andi war übrigens weder Pfleger noch Arzt, sondern ebenfalls so etwas wie Patient, aber er war nicht da zur Therapie, sondern für ein psychiatrisches Gutachten im Auftrag der Justiz: In einer schrecklichen Nacht hatte ihn seine schreckliche Eifersucht vollends übermannt und er hatte seine schlafende Frau und ihr gemeinsames Kind erwürgt. Weil er nach psychiatrischem Urteil keinerlei Eigen-Arten aufwies, fand besagte Justiz es für angebracht, seine Tat mit 15 Jahren Freiheitsentzug zu ahnden.
Nach dieser Geschichte trällerte der Ministrant: „Ubi caritas et amor, deus ibi est = Wo Zuneigung und Liebe, da ist Gott“, eine alte Antiphon aus dem Gründonnerstagsritual der katholischen Kirche. Und dann stellte unser hoffnungslos romantischer Frommer lakonisch fest: „Zwischen dem Mörder und dem Irren hat sich also Gott abgespielt.“ Der Tor war an der Grenze seiner Belastbarkeit, nicht nur wegen der politisch völlig inkorrekten Ausdrucksweise des Ministranten.