Dorothea Wyssin

Diese Scheibe stammt aus dem Radfenster des südlichen Querhauses. Sie ist eine von sechs Scheiben im „Frauenfenster“, das offiziell als „Fenster der Demut“ bezeichnet wird und 6 Frauen zeigt, „die ihr Leben dem Dienst an anderen gewidmet hatten“ (Grosses Münsterbuch des Münsterbauvereins). Phöbes Frage, wo das gendermässig korrekte Äquivalent mit 6 mustergültig demütigen sechs Männern sich befinde, führte zur Feststellung, dass es keines gibt. Phöbe äusserte die Absicht, dieses Fenster, das nur überholte Klischees zu Wesen und Standort der Frauen in Kirche und Welt transportiere, demnächst mit einem Pflasterstein zu bedenken. Wir Männer rieten davon ab. Wir waren aber alle überrascht, dass dieses vom Motiv her doch sehr traditionell wirkende Werk münsterrelativ jüngsten Datums ist: Es wurde 2006 von dem aus Freiburg stammenden Künstler Hans Günther Van Look geschaffen. 

Auf dieser Scheibe des Frauenfensters ist offensichtlich auch ein Mann abgebildet, befremdlich. Aber er ist nicht als solcher da, sondern nur, damit man die dargestellte Frau erkennt. Wie das Kleinkind Unsere Liebe Frau und die Salbdose die Maria Magdalena kennzeichnen, kennzeichnet dieser ausgemerkelte Asket, der in das kollektive katholische Gedächtnis als heiliger Nikolaus von der Flüe eingegangen ist, diese Dame als seine Frau Dorothea Wyssin.  

Es gibt sehr wenig als gesichert geltendes Wissen um sie. Geboren etwa 1432, war sie 15 Jahre jünger als ihr Mann, der sie als 15-jähriges Mädchen heiratete. Es folgten dann 20 Jahre Ehe mit einem endlosen Tick (Schwangerschaft) und Tack (Stillen). Denn in dieser Zeit stellten sie gemeinsam 10 stramme Kinder auf die Beine. Dann – er war inzwischen 50, sie 35 Jahre alt – kam er auf die Idee, Eremit zu werden. Erst ging er richtung Elsass, kam von dort aber spornstreichs zurück; die einen sagen wegen einer himmlischen Eingebung, andere sagen, unterwegs sei er gewarnt worden, man würde ihm sein Gottesmannsein nicht abnehmen, sondern ihn als mutmasslichen Spion an den nächsten Baum hängen. Er kam nicht nach Hause, sondern ging am Haus vorbei  und hinab in eine dahinter befindliche Schlucht, wo er die restlichen 19½ Jahre seines Lebens als Eremit verbrachte. (Ein unschätzbarer Vorteil dieser Ortswahl  ist, dass man als Pilger die wichtigsten Stätten seines Erdenwallens, Geburtshaus, Wohnhaus und Klause, auch mit gelegentlichen Gebetspausen an einem Vormittag schaffen kann.) Sie lebte mit den Kindern alleinerziehend oben in ihrem Bauernhaus. Sicher ist, dass er keinen Unterhalt bezahlt hat.  Seine Sympathisanten werden nicht müde zu betonen, dass der älteste Sohn bei seinem Auszug schon knapp 20 Jahre alt war und als vollwertiger Chef die Leitung des Familienbetriebs übernehmen konnte. Offenkundig hat, wie der Tor betont, die Abwesenheit des religiösen Spinners das Funktionieren des vonderflüeschen  grossen Bauernhofs nicht beeinträchtigt.  Die Kinder machten anscheinend alle Karriere; der Jüngste studierte an mehreren europäischen Universitäten, machte seinen Master of Arts und wurde Priester. Bruder Klaus, wie er sich inzwischen nannte, starb 1487, 70 Jahre alt; wie lange Dorothea ihn überlebte, ist unbekannt.

Wie die auch für Dorothea und die Kinder einschneidende Entscheidung  zustande kam, darüber diskutierten wir in der Redaktionskonferenz. Da Nikolaus bekanntermassen ein Heiliger war und damit kein Macho sein konnte, folgert die fromme Phantasie unseres Ministranten, dass sie beide zusammen  nach reiflichem gemeinsamem Nachdenken und Beten  diesen Beschluss gefasst haben müssen. Das berichtet auch die fromme Literatur über die beiden, in der es auch darum geht, Dorothea als aktiven Teil in dem heiligen Geschehen des heiligen Lebens des heiligen Nikolaus darzustellen, um Argumente für ihre mögliche und von manchen ersehnte Heiligsprechung zu haben. Der Tor mit seiner unfrommen Phantasie meinte, sie sei sicher heilfroh gewesen, der Angst vor der unausweichlich drohenden nächsten Schwangerschaft ein für alle Mal enthoben gewesen zu sein. Und auch das übrige Leben mit einem spätmittelalterlichen Mystiker sei sicher kein Schleck gewesen. Diese Bemerkung beurteilten wir anderen als unqualifiziert.

Der Historisch-Kritische machte sich kundig. Der Analphabet Nikolaus hat natürlich selber nichts Schriftliches hinterlassen, aber er war sehr bekannt in ganz Europa, vor allem weil er sich offenkundig  nur vom eucharistischen Brot und Wasser ernährte. Deswegen sprechen zahlreiche Quellen von ihm und berichten von Äusserungen aus seinem Munde.  Anscheinend vermittelte er den Eindruck, Dorothea habe voll hinter seinem Entschluss gestanden. Ein anderer Text lässt allerdings aufhorchen:  Ein früher Biograph, Heinrich Wölflin, der seine lateinisch verfasste Arbeit im Jahr 1501, also 14 Jahre nach Nikolaus‘ Tod, abschloss und ihn nicht persönlich gekannt hatte sondern viele mehr oder weniger seriöse Quellen verwandt hat, äusserte sich auch zur ehelichen Entscheidfindung:  Er weiss, dass  Dorothea  „seine treue Beraterin“ war, aber auch dass  Nikolaus für diesen Schritt nach der Rechtslage ihre Erlaubnis brauchte. „Er gab sich grösste Mühe, sie zu überreden, was aber lange, weil mit den häuslichen Sorgen enge verknüpft, umsonst war….Als er sie immer wieder drängte, gab sie schliesslich,  widerstrebend und unter vergeblichem Flehen, ihre Zustimmung.“  Andere Quellen lassen vermuten, dass er vor seinem Aufbruch zwei Jahre lang in einem schrecklichen Zustand war. Angesichts eines schlimmen Unrechts, das er nicht verhindern konnte, habe er alle öffentlichen Ämter niedergelegt, moderne Interpreten sprechen von schweren Depressionen und krampfartigen Anfällen. Und er wollte nur eines, seiner wahrgenommenen Berufung zum Eremiten folgen. Mit schwerer psychosomatischer Erkrankung hat er schliesslich seine Frau gezwungen, ihn gehen zu lassen, wie der Tor zusammenfasste.- Sie gingen im Guten auseinander, sie nähte ihm sein Eremitengewand und hielt weiterhin Kontakt; bei seinem schmerzlichen Tod war sie, wie man sagt, zugegen.

Dass sie ihn gehen liess, weil sie ihn nicht halten konnte – rechtfertigt das eine Heiligsprechung? Phöbe ist aus grundsätzlichen Erwägungen dagegen: Nur jetzt keine Alibi-Pseudoehrung einer Frau, anstatt Frauen in der katholischen Kirche endlich menschlich, das heisst gleichwertig zu behandeln. Aber der Ministrant ist dafür, dass Dorothea Wyssin – von der Flüe heiliggesprochen wird und zur Patronin der Alleinerziehende ernannt wird.

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