
„Die Goldmünzen austeilende Rhetorik veranschaulicht den Wert des wohlgesetzten Wortes“, wie G. Linke in seinem schönen Büchlein über die Turmhallenskulpturen sagt. Die gesprächige Dame trägt als Kopfputz über ihren offenen blonden Haaren einen goldenen Haarreif, einen Schapel oder Schäpel also, und darüber einen Schleier. Das Gebende (oder Gebände) blieb ihr erspart, diese Bandage aus Tüchern um Stirn, Wangen und Kinn, die manchmal so straff angespannt waren, dass sie das Öffnen des Mundes erschwerten – unpassend für eine Rhetorikerin. Da steht sie da in der Turmhalle, schön und reich beschenkend, zusammen mit ihren sechs Kolleginnen von den „Freien Künsten“. Aber was machen sie hier, ausgerechnet an dieser Stelle?
Dazu gibt es unterschiedliche Antworten. Im grossen Münsterbuch des Münsterbauvereins wird gemutmaßt, die sieben hätten sich irgendwie verlaufen. Dann, kann man annehmen, hätten die Steinmetze diese Damen übrig gehabt – übrigens eine einmalige Gruppe in der gotischen deutschen Bildhauerkunst – und sie dann in die Turmhalle gestellt (weil es dort nicht regnet?), ohne erkennbaren Bezug zur übrigen sehr stringenten Komposition der Halle. Das überzeugte die Redaktionskonferenz nicht, da gefiel uns besser, was Konrad Kunze in seinem wunderbaren Bestseller und Evergreen zum Münster vorsichtig andenkt: Dass die sieben an dieser Stelle sehr wohl einen Sinn hätten – man könnte sagen, nicht als Denk-, sondern als Mahnmale. Wie die törichten Jungfrauen zeigen sie vielleicht einen Irrweg auf, vor dem die Freiburger Christenheit beim Verlassen des Münsters gewarnt wird.
Dem Historisch-Kritischen dämmert da auf, was er in der Kirchengeschichtsvorlesung gehört hat: Die mittelalterliche Theologie war nicht von eitel Harmonie, sondern von tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten geprägt. Da war unter anderen und einerseits der „engelgleiche“ heilige Dr. Thomas von Aquin (Doctor angelicus) aus dem Dominikanerorden, der die vorchristlichen griechischen Autoren samt der Kraft der menschlichen Vernunft sehr hoch schätzte und die katholische Theologie der nächsten sieben Jahrhunderte nachhaltigst prägte. Ihm stand unter anderen der ebenso heilige „seraphische“ Dr. Bonaventura da Bagnoregio (Doctor seraphicus) gegenüber, Generalminister des Franziskanerordens, eher Mystiker und sehr skeptisch gegenüber dem Glanz der Antike. Ihm und seinen Jüngern könnte man durchaus eine ablehnende Haltung gegenüber den „Freien Künsten“ zutrauen. Und die mutmaßlichen theologischen Bedenker der Turmhallenausstattung waren Franziskaner.
Das sind Vermutungen, nicht mehr; aber sie werden durch folgende Beobachtung gestützt: Auf der rechten Seite, wo der richtige Weg durch kluge Jungfrauen und De-Luxe-Heilige vorexerziert wird, stehen plötzlich der Spitzbub und das Spitzmädchen vom Dienst, Herr Welt und Frau Venus (oder wie sie sonst wohl heisst), als dringliche Warnung. Parallel dazu, auf der linken Seite mit den töricht-jungfräulichen Beispielen, die den falsche Weg zeigen, stehen plötzlich zwei Superheilige tröstlich da, Margaretha und Katharina: Verzagt nicht, Hilfe steht bereit. Und da ist die eine der beiden, die heilige Katharina, für unser Thema wirklich interessant: Auf ihrem unbequemen Weg ins Jenseits hat sie doch en passant 50 heidnische Philosophen aus der Kraft ihres Glaubens an Christus widerlegt und gleich auch noch bekehrt. Man kann sie verstehen als christliche, rettende Antwort aus dem Glauben auf den verführenden Irrtum der vorglaubenden Vernunft, unter anderem in Form der „Freien Künste“. Und deswegen steht sie wohl hier – antithetisch zu den „Künsten“.