Zwei Einhörner

Ein Gewölbestein im südlichen Chorumgang des Münsters ist mit der Jahreszahl 1536 versehen und markiert wohl, wenn man so will, den Abschluss der eigentlichen Münsterbauarbeiten. Die Ausbauarbeiten gingen allerdings noch weiter, so an den Kapellen des Chorumgangs. Die Sockelsteine vor diesen Kapellen sind teilweise datiert, so auch der hier gezeigte vor der Suter-Kapelle mit den beiden schönen Einhörnern, die also im Jahr 1568 entstanden sind. Das ist offensichtlich nicht mehr Gotik, die Renaissance hat auch im Münster wenige Spuren hinterlassen, u.a. mit einem Tier, das dieser Epoche lieb und teuer war; wenige hundert Meter weg vom Münster, an der Ecke Rathausgasse – Rathausplatz des Alten Rathauses ist ein weiteres schönes Exemplar dieser Spezies zu bewundern, dort sogar noch mit einem wichtigen Attribut, das hier im Münster fehlt, mit einer Jungfrau.

Zweihörnerige Tiere sind häufig, Ein-Hörner gelten als selten und exquisit, zu Unrecht, gibt es doch Nashörner seit Jahrmillionen. Aber natürlich ist das Einhorn im engen Sinn, jenes edle, sehr scheue und ebenso schöne pferdeähnliche Wesen mit einem elegant gewundenen, schlanken und spitzen einzelnen Horn auf der Stirn, sehr selten, extrem selten, so selten, dass es es vielleicht gar nicht gibt.

Wenn letzteres stimmt, woher kommen dann die Geschichten über es? Liest man alte Fassungen solcher Berichte aus der griechischen und römischen Antike, in denen das Wesen gar nichts von seiner späteren Eleganz an sich hat, aber schon Unicornus, Einhorn, heisst, legt sich die Vermutung nahe, dass Berichte aus zweiter Hand über das indische Nashorn (das im Gegensatz zu anderen Gattungsgenossen keine zwei, sondern nur ein einziges Horn hat) schuld sind.

Neuere Meldungen plädierten allerdings dafür, das Elasmotherium sibiricum, das Sibirische Nashorn, haftbar zu machen. Dieses lebte vor ein paar Millionen Jahren in Zentralasien und war, wie man meinte, vor 350 000 Jahren ausgestorben, lange bevor wir dort waren. Neuere Knochenfunde in Kasachstan bzw. moderne Datierungsmethoden haben scheinbar ergeben, dass es noch vor 29 000 Jahren gelebt habe und somit unseren direkten Vorfahren begegnet sein könnte. Es sei, so wurde dann flott behauptet, das Jahrzehntausende lang erinnerte Ur-Einhorn. In der Redaktionskonferenz meinten wir einmütig, am modernen indischen Nashorn festhalten zu müssen. Die Meldungen über Elasmotherium sibiricum als Ahne des bis heute ja in Fantasy und Kinderzimmern sehr populären Fabeltieres entsprängen weniger dem wissenschaftlichen Fortschritt als dem starken menschlichen Grundbedürfnis und entsprechenden Menschenrecht, sich gedruckt lesen zu können. Zwischenzeitlich wurde nochmals nachgemessen: Das relativ junge Elasmotherium war das Ergebnis einer Falschmessung.

Seit Aristoteles wussten die Menschen der Antike vom Einhorn. (Auch in die griechische und lateinische Übersetzungen des Alten Testaments ging es ein und schliesslich sogar in die Lutherbibel – als Folge eines Übersetzungsfehlers.) Und es überrascht nicht, dass es in den grandiosen Strudel der Durchmischung der antiken Welt mit beträchtlichen Elementen der Jesusbewegung, aus der die christliche Religion bzw. Welt im Laufe der Spätantike hervorging, hineingezogen wurde und eine neue Gestalt gewann.

Sie wird fassbar im „Physiologus“, dem „Naturkundigen“. Die Schrift wurde im 2. oder 3. Jahrhundert in griechischer Sprache und christlichem Geist abgefasst bzw. begonnen und über längere Zeit fortgeführt. Sie referiert sehr knapp damaliges naturkundliches Wissen über Tiere, Pflanzen und Mineralien und ergänzt alles „unter dem Gesichtspunkt der Zeichenhaftigkeit der Welt und mit christlicher Nutzanwendung“ (Mittelalterlexikon, Art. Physiologus). Das Einhorn ist hier merklich verändert: Es ist ziemlich klein, hat nur die Grösse eines Böckleins, ist aber sehr stark und hat ein einziges Horn mitten auf dem Kopf. Um es zu fangen, muss man eine reine Jungfrau, schick zurechtgemacht, auf die Wiese setzen, und dann kommt es angerannt und springt in ihren Schoss.

Es war ein bedingter Reflex, eine zwanghafte Assoziation: Sobald von „Jungfrau“ die Rede war, blitzte im christlichen Hirn „Jungfrau Maria“ auf, und war sie mal da, wurde alles, was in ihre Nähe kam, als das kleine Jesulein gedeutet. So sieht schon der Physiologus die Sachlage; ausformuliert hat diesen Gedanken um das Jahr 600 herum Isidor von Sevilla in seinem Werk „Etymologien“. Und so ist ab dann die Jungfrau mit dem Einhorn ein Symbol für Maria mit Christus, der ihr bei der Menschwerdung in den reinen Schoss springt.

Der „Physiologus“ und Isidors „Etymologien“ waren sehr wichtig für die Vorstellungswelt und das geglaubte Wissen des ganzen Mittelalters bis in die beginnende Neuzeit hinein, und so war das Einhorn mit seiner Symbolik unbezweifelter Bestandteil der Fauna des christlichen Abendlandes. Als Thema der darstellenden Kunst ist es seit dem 12. Jahrhundert zu finden, besonders beliebt dann in der Renaissance, was ja auch unsere zwei Einhörnle samt Jungfrau mit Einhorn am Alten Rathaus belegen.

Und seit dem 12. Jahrhundert ist überhaupt kein Zweifel mehr möglich an der Existenz des Einhorns: Einhornhörner sind leibhaftig aufgetaucht, schlanke, elfenbeinerne, gedrehte sehr spitze Stangen, die teilweise über zwei Meter massen. Sie veränderten bald das Erscheinungsbild der Tiere in der darstellenden Kunst, die gross, schön und schlank wurden ab dann solche Luxushörner tragen. Von einem derart symbolträchtigen Tier stammend, waren sie religiös von grossem Interesse und waren kostbarsten Reliquien gleichgestellt; von alters her galten sie zudem als medizinisch hochinteressant, vor allem als Universalmittel gegen Gifte aller Art. Das führte dazu, dass sie zu horrendem Preis, zeitweise ein Gramm Horn für 20 Gramm Gold, gehandelt wurden. Der Handel mit ihnen, so kann man allenthalben im Internet lesen, war von den Wikingern monopolisiert. Doch die bezogen die Stangen keineswegs aus wilden Wäldern des Ostens oder Westens, wo verschwiegene Einhörner heimlich grasten, sondern sie hatten sie von Inuits, die sie ihrerseits buchstäblich aus den Wassern des Nordmeers fischten. Die mythisch-mystisch aufgeladenen Stangen waren nämlich ganz prosaische Stosszähne von Narwalen, was sich erst im 17. Jahrhundert langsam durchsprach. Zeitgleich schwand die religiöse Bedeutung des Tiers, dann auch der Glaube an die pharmakologische Wirkung seines Horns. Aber damals stand der Sockelstein mit unseren Einhörnern schon lange im Chorumgang des Münsters. Und in der säkularisierten, entzauberten Welt taucht das Einhorn unverhofft bezaubernd, edel, rein, heilbringend auf aus den neu aufgestiegenen Nebeln der Phantasie, pardon: Fantasy.    

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