Nicht jeder, der in der Bibel erwähnt wird, ist deswegen schon heilig. Sprichwörtlich dafür ist Pontius Pilatus, der es sogar als Nichtheiliger bis ins Credo geschafft hat. Eine weitere in der Bibel erwähnte Nichtheilige ist hier zu sehen, Herodias, zeitweilig mit dem hier auch abgebildeten nichtheiligen Herodes, einem von mehreren seines Namens, verheiratet. Sie sitzen hier bei einem Fest, vor ihnen Spielleute, wie man sieht, neben ihm, was man nicht sieht, weil nicht auf dem Bildausschnitt, der Herodias Tochter Salome, die vom Henker den frisch abgetrennten Kopf des Johannes des Täufers überreicht bekommt. (Wir setzen die Geschichte hier als bekannt voraus; ansonsten nachzulesen bei Mt 14,3-12 und Parallelstellen bei Mk und Lk.)
Abgesehen von der Kleinigkeit mit dem Kopf ist die ganze Bildergeschichte wirklich niedlich, wie sie im Sockel der Figur des mittleren Heiligen Dreikönig wiedergegeben ist. Sie lohnt eine Reise nach Freiburg und ins Münster und ist in der Turmhalle im linken Gewände des inneren Hauptportals zu bewundern.
Ein Gewölbestein im südlichen Chorumgang des Münsters ist mit der Jahreszahl 1536 versehen und markiert wohl, wenn man so will, den Abschluss der eigentlichen Münsterbauarbeiten. Die Ausbauarbeiten gingen allerdings noch weiter, so an den Kapellen des Chorumgangs. Die Sockelsteine vor diesen Kapellen sind teilweise datiert, so auch der hier gezeigte vor der Suter-Kapelle mit den beiden schönen Einhörnern, die also im Jahr 1568 entstanden sind. Das ist offensichtlich nicht mehr Gotik, die Renaissance hat auch im Münster wenige Spuren hinterlassen, u.a. mit einem Tier, das dieser Epoche lieb und teuer war; wenige hundert Meter weg vom Münster, an der Ecke Rathausgasse – Rathausplatz des Alten Rathauses ist ein weiteres schönes Exemplar dieser Spezies zu bewundern, dort sogar noch mit einem wichtigen Attribut, das hier im Münster fehlt, mit einer Jungfrau.
Zweihörnerige Tiere sind häufig, Ein-Hörner gelten als selten und exquisit, zu Unrecht, gibt es doch Nashörner seit Jahrmillionen. Aber natürlich ist das Einhorn im engen Sinn, jenes edle, sehr scheue und ebenso schöne pferdeähnliche Wesen mit einem elegant gewundenen, schlanken und spitzen einzelnen Horn auf der Stirn, sehr selten, extrem selten, so selten, dass es es vielleicht gar nicht gibt.
Wenn letzteres stimmt, woher kommen dann die Geschichten über es? Liest man alte Fassungen solcher Berichte aus der griechischen und römischen Antike, in denen das Wesen gar nichts von seiner späteren Eleganz an sich hat, aber schon Unicornus, Einhorn, heisst, legt sich die Vermutung nahe, dass Berichte aus zweiter Hand über das indische Nashorn (das im Gegensatz zu anderen Gattungsgenossen keine zwei, sondern nur ein einziges Horn hat) schuld sind.
Neuere Meldungen plädierten allerdings dafür, das Elasmotherium sibiricum, das Sibirische Nashorn, haftbar zu machen. Dieses lebte vor ein paar Millionen Jahren in Zentralasien und war, wie man meinte, vor 350 000 Jahren ausgestorben, lange bevor wir dort waren. Neuere Knochenfunde in Kasachstan bzw. moderne Datierungsmethoden haben scheinbar ergeben, dass es noch vor 29 000 Jahren gelebt habe und somit unseren direkten Vorfahren begegnet sein könnte. Es sei, so wurde dann flott behauptet, das Jahrzehntausende lang erinnerte Ur-Einhorn. In der Redaktionskonferenz meinten wir einmütig, am modernen indischen Nashorn festhalten zu müssen. Die Meldungen über Elasmotherium sibiricum als Ahne des bis heute ja in Fantasy und Kinderzimmern sehr populären Fabeltieres entsprängen weniger dem wissenschaftlichen Fortschritt als dem starken menschlichen Grundbedürfnis und entsprechenden Menschenrecht, sich gedruckt lesen zu können. Zwischenzeitlich wurde nochmals nachgemessen: Das relativ junge Elasmotherium war das Ergebnis einer Falschmessung.
Seit Aristoteles wussten die Menschen der Antike vom Einhorn. (Auch in die griechische und lateinische Übersetzungen des Alten Testaments ging es ein und schliesslich sogar in die Lutherbibel – als Folge eines Übersetzungsfehlers.) Und es überrascht nicht, dass es in den grandiosen Strudel der Durchmischung der antiken Welt mit beträchtlichen Elementen der Jesusbewegung, aus der die christliche Religion bzw. Welt im Laufe der Spätantike hervorging, hineingezogen wurde und eine neue Gestalt gewann.
Sie wird fassbar im „Physiologus“, dem „Naturkundigen“. Die Schrift wurde im 2. oder 3. Jahrhundert in griechischer Sprache und christlichem Geist abgefasst bzw. begonnen und über längere Zeit fortgeführt. Sie referiert sehr knapp damaliges naturkundliches Wissen über Tiere, Pflanzen und Mineralien und ergänzt alles „unter dem Gesichtspunkt der Zeichenhaftigkeit der Welt und mit christlicher Nutzanwendung“ (Mittelalterlexikon, Art. Physiologus). Das Einhorn ist hier merklich verändert: Es ist ziemlich klein, hat nur die Grösse eines Böckleins, ist aber sehr stark und hat ein einziges Horn mitten auf dem Kopf. Um es zu fangen, muss man eine reine Jungfrau, schick zurechtgemacht, auf die Wiese setzen, und dann kommt es angerannt und springt in ihren Schoss.
Es war ein bedingter Reflex, eine zwanghafte Assoziation: Sobald von „Jungfrau“ die Rede war, blitzte im christlichen Hirn „Jungfrau Maria“ auf, und war sie mal da, wurde alles, was in ihre Nähe kam, als das kleine Jesulein gedeutet. So sieht schon der Physiologus die Sachlage; ausformuliert hat diesen Gedanken um das Jahr 600 herum Isidor von Sevilla in seinem Werk „Etymologien“. Und so ist ab dann die Jungfrau mit dem Einhorn ein Symbol für Maria mit Christus, der ihr bei der Menschwerdung in den reinen Schoss springt.
Der „Physiologus“ und Isidors „Etymologien“ waren sehr wichtig für die Vorstellungswelt und das geglaubte Wissen des ganzen Mittelalters bis in die beginnende Neuzeit hinein, und so war das Einhorn mit seiner Symbolik unbezweifelter Bestandteil der Fauna des christlichen Abendlandes. Als Thema der darstellenden Kunst ist es seit dem 12. Jahrhundert zu finden, besonders beliebt dann in der Renaissance, was ja auch unsere zwei Einhörnle samt Jungfrau mit Einhorn am Alten Rathaus belegen.
Und seit dem 12. Jahrhundert ist überhaupt kein Zweifel mehr möglich an der Existenz des Einhorns: Einhornhörner sind leibhaftig aufgetaucht, schlanke, elfenbeinerne, gedrehte sehr spitze Stangen, die teilweise über zwei Meter massen. Sie veränderten bald das Erscheinungsbild der Tiere in der darstellenden Kunst, die gross, schön und schlank wurden ab dann solche Luxushörner tragen. Von einem derart symbolträchtigen Tier stammend, waren sie religiös von grossem Interesse und waren kostbarsten Reliquien gleichgestellt; von alters her galten sie zudem als medizinisch hochinteressant, vor allem als Universalmittel gegen Gifte aller Art. Das führte dazu, dass sie zu horrendem Preis, zeitweise ein Gramm Horn für 20 Gramm Gold, gehandelt wurden. Der Handel mit ihnen, so kann man allenthalben im Internet lesen, war von den Wikingern monopolisiert. Doch die bezogen die Stangen keineswegs aus wilden Wäldern des Ostens oder Westens, wo verschwiegene Einhörner heimlich grasten, sondern sie hatten sie von Inuits, die sie ihrerseits buchstäblich aus den Wassern des Nordmeers fischten. Die mythisch-mystisch aufgeladenen Stangen waren nämlich ganz prosaische Stosszähne von Narwalen, was sich erst im 17. Jahrhundert langsam durchsprach. Zeitgleich schwand die religiöse Bedeutung des Tiers, dann auch der Glaube an die pharmakologische Wirkung seines Horns. Aber damals stand der Sockelstein mit unseren Einhörnern schon lange im Chorumgang des Münsters. Und in der säkularisierten, entzauberten Welt taucht das Einhorn unverhofft bezaubernd, edel, rein, heilbringend auf aus den neu aufgestiegenen Nebeln der Phantasie, pardon: Fantasy.
Sie haben es geschafft, nach der Auferstehung ziehen sie mit ihren Freunden erlöst in den Himmel ein, im Tympanon über dem inneren Hauptportal in der linken Hälfte in der dritten Reihe von unten. Dem ist nichts hinzuzufügen, ausser dass sie dort seit etwa 1281-84 beseligt lächeln.
Was dieses possierliche Weibchen mit Mann und Kind im Freiburger Münster soll, habe ich nicht verstanden, auch wenn es noch drei Schwestern hat, nämlich im Basler Münster und in der Stiftskirche von St. Ursanne im Schweizer Kanton Jura. Es ist ein bizarres Mischwesen, obere Hälfte Menschenfrau, die liebevoll ihr Kind stillt, das seinerseits etwas in der Hand hält; in Basel hat der dortige Kollege eindeutig einen Fisch in der Hand, hier sei es ein Vogel. Die untere Hälfte ist phantastisch tiergestaltig: Das Wesen hat zwei kräftige Füsse und zwei prächtige Fischschwänze, die es beidseitig hochschwingt, um bequem sitzen zu können. An allen drei Fundstellen werden die Damen als Sirenen bezeichnet, die auch, wie es heisst, in der damaligen Literatur vorkommen. Und natürlich stammt das phantastische Frauchen aus dem ältesten, spätromanischen Teil des Münsters, wo man noch Sinn hatte für sowas, knapp nach 1200. Man findet es rechts vorne, wo es aus dem Querschiff reingeht in den Chorumgang, am Eingangsportal der früheren Michaelskapelle, oben links auf dem vorderen Kapitell.
Wieder eimal ein heiliger Dreikönig: Der schöne junge Mohrenkönig, pechrabenschwarz und goldbeturbant, mit sexy Unterkleid und wallendem Mantel, morgenländischer gehts nicht, wie ihn Johann Wydyz, der aus Strassburg stammende Freiburger Bildhauer, im Jahr 1505, auch damals schon schwarz, abgebildet hat. Er steht heute im Dreikönigsaltar an der Stirnseite des rechten Seitenschiffs, da rein gestellt 1823 von Joseph Dominik Glaenz in seinen neu geschaffenen Dreikönigsaltar, in den er die von Wydyz geschaffenen Figuren der Heiligen Familie und der drei Könige hinein komponierte. Ursprünglich und bis 1803 standen sie in einer damals abgerissenen Dreikönigskapelle im Basler Hof.
Ja, und seine Gebeine liegen angeblich in Köln, im Dreikönigschrein im dortigen Dom. Sie ruhen dort, seitdem Kaiser Barbarossa sie, zusammen mit den Knochen seiner Kollegen Melchior und Balthasar, seinem Kanzler und Kölner Bischof Rainald von Dassel geschenkt hatte. (Oder hatte der sie selber geklaut – bei Kölner Bischöfen ist ja fast alles möglich.) Und schenken konnte er sie, weil sie sich im Jahr 1162, als Barbarossa Mailand eroberte, dort befanden und Barbarosssa sich ihrer bediente. Allerdings ist die Herkunft dieser Mailänder Knochen völlig obskur, und deswegen hat das Redaktionskomitee – der Ministrant, der in zarter Jugend in der Christmette das wächserne Christkind vom Hochaltar zur Krippe am Seitenaltar tragen durfte und dabei nicht gestolpert ist, der Historisch-Kritische, der sich einst sehr ernsthaft um die Gottesgelehrsamkeit gemüht, aber schon damals nicht alles geglaubt hatte, was ihm zugemutet wurde, der Tor, der an der Geschichte von Bethlehem genau so viel Spass hat wie an der von Schneewittchen und dem Prinzen und ich, der die häufig sehr divergierenden Meinungen irgendwie zu bündeln versucht; tatkräftige Hilfe erfahren wir durch Phöbe, unsere Teilzeitredaktionspraktikantin – beschlossen, beim erzbischöflichen Stuhl von Köln den Antrag zu stellen, DAN- und sonstige Analysen dieser Knochen durchführen zu lassen, um mehr über sie zu erfahren. Phöbe wettete mit dem Toren, es seien sicher die Skelette von lombardischen Bauern des X. Jahrhunderts, deren sekundäre Verwendung als Reliquien sie zu höchsten Ehren erhoben, von denen sie allerdings nicht mehr viel hatten. Der Tor meinte, dagegen sprächen die kostbaren, aus dem vorderen Orient stammenden Stoffe, in die die Knochen gewickelt sind und die im 2. oder 3. Jahrhundert hergestellt worden sein sollen.
„Die Goldmünzen austeilende Rhetorik veranschaulicht den Wert des wohlgesetzten Wortes“, wie G. Linke in seinem schönen Büchlein über die Turmhallenskulpturen sagt. Die gesprächige Dame trägt als Kopfputz über ihren offenen blonden Haaren einen goldenen Haarreif, einen Schapel oder Schäpel also, und darüber einen Schleier. Das Gebende (oder Gebände) blieb ihr erspart, diese Bandage aus Tüchern um Stirn, Wangen und Kinn, die manchmal so straff angespannt waren, dass sie das Öffnen des Mundes erschwerten – unpassend für eine Rhetorikerin. Da steht sie da in der Turmhalle, schön und reich beschenkend, zusammen mit ihren sechs Kolleginnen von den „Freien Künsten“. Aber was machen sie hier, ausgerechnet an dieser Stelle?
Dazu gibt es unterschiedliche Antworten. Im grossen Münsterbuch des Münsterbauvereins wird gemutmaßt, die sieben hätten sich irgendwie verlaufen. Dann, kann man annehmen, hätten die Steinmetze diese Damen übrig gehabt – übrigens eine einmalige Gruppe in der gotischen deutschen Bildhauerkunst – und sie dann in die Turmhalle gestellt (weil es dort nicht regnet?), ohne erkennbaren Bezug zur übrigen sehr stringenten Komposition der Halle. Das überzeugte die Redaktionskonferenz nicht, da gefiel uns besser, was Konrad Kunze in seinem wunderbaren Bestseller und Evergreen zum Münster vorsichtig andenkt: Dass die sieben an dieser Stelle sehr wohl einen Sinn hätten – man könnte sagen, nicht als Denk-, sondern als Mahnmale. Wie die törichten Jungfrauen zeigen sie vielleicht einen Irrweg auf, vor dem die Freiburger Christenheit beim Verlassen des Münsters gewarnt wird.
Dem Historisch-Kritischen dämmert da auf, was er in der Kirchengeschichtsvorlesung gehört hat: Die mittelalterliche Theologie war nicht von eitel Harmonie, sondern von tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten geprägt. Da war unter anderen und einerseits der „engelgleiche“ heilige Dr. Thomas von Aquin (Doctor angelicus) aus dem Dominikanerorden, der die vorchristlichen griechischen Autoren samt der Kraft der menschlichen Vernunft sehr hoch schätzte und die katholische Theologie der nächsten sieben Jahrhunderte nachhaltigst prägte. Ihm stand unter anderen der ebenso heilige „seraphische“ Dr. Bonaventura da Bagnoregio (Doctor seraphicus) gegenüber, Generalminister des Franziskanerordens, eher Mystiker und sehr skeptisch gegenüber dem Glanz der Antike. Ihm und seinen Jüngern könnte man durchaus eine ablehnende Haltung gegenüber den „Freien Künsten“ zutrauen. Und die mutmaßlichen theologischen Bedenker der Turmhallenausstattung waren Franziskaner.
Das sind Vermutungen, nicht mehr; aber sie werden durch folgende Beobachtung gestützt: Auf der rechten Seite, wo der richtige Weg durch kluge Jungfrauen und De-Luxe-Heilige vorexerziert wird, stehen plötzlich der Spitzbub und das Spitzmädchen vom Dienst, Herr Welt und Frau Venus (oder wie sie sonst wohl heisst), als dringliche Warnung. Parallel dazu, auf der linken Seite mit den töricht-jungfräulichen Beispielen, die den falsche Weg zeigen, stehen plötzlich zwei Superheilige tröstlich da, Margaretha und Katharina: Verzagt nicht, Hilfe steht bereit. Und da ist die eine der beiden, die heilige Katharina, für unser Thema wirklich interessant: Auf ihrem unbequemen Weg ins Jenseits hat sie doch en passant 50 heidnische Philosophen aus der Kraft ihres Glaubens an Christus widerlegt und gleich auch noch bekehrt. Man kann sie verstehen als christliche, rettende Antwort aus dem Glauben auf den verführenden Irrtum der vorglaubenden Vernunft, unter anderem in Form der „Freien Künste“. Und deswegen steht sie wohl hier – antithetisch zu den „Künsten“.
Was macht dieser Engel bei Mama Maria, die nicht mehr im Stall von Bethlehem biwakiert, sondern in einem Prunkbett residiert, und ihrem Kindchen? Arbeitet er als Hebamme bei der nachgeburtlichen Nachsorge, ist er als Kinderschwester bzw. Kindermädchen der gnädigen Frau angestellt oder ist er einfach zum Jubilieren da? Das Redaktionsteam weiss es nicht, und auch die vielen Münsterbücher sagen dazu nichts. Aber alle drei sind sehr schön und passen wunderbar und wie extra ausgesucht zu Weihnachten. Sie sind ein kleines Stück aus dem grossen Tympanon in der Turmhalle, unterste Zeile rechts, ça vaut le détour.
Wir waren uns in der Redaktionskonferenz einig: Wir würden keine von den beiden als Namenspatronin einer Tochter wählen, obwohl beide hochgerühmt zu den 14 Nothelfern und den vier „virgines principales“, also den „Hauptjungfrauen“, zählen, die Heilige Margaretha von Antiochien und die Heilige Katharina von Alexandrien. Aber sie haben nie existiert, sind nur Geschöpfe der Phantasie der Erfinder ihrer Legenden; und die Legenden sind im übrigen dürftig und phantasielos, einem Grundtyp folgend, der beliebig mit Frauennamen ausgefüllt und mit grausig-perversen Details ausgeschmückt werden konnte. Trotz des theologischen Sachverstandes unseres Ministranten und des Historisch-Kritischen war es uns nicht möglich zu klären, ob es was bringt, wenn man nichtexistierende Heilige um himmlische Fürsprache bittet.
Aber sie stehen nun mal in der Turmhalle, ganz in der Südwestecke, wenn man die Halle verlässst, ganz links vorne. Was tun sie dort, was ist ihre Logistik (vom franz. Wort „logis“, „Unterkunft“ für Truppen, Waffen, Material), zu welchem Zweck hat man sie dort untergebracht? Die Komposition der Turmhalle gibt uns die Antwort:
Wenn die frommen Bobbele am Sonntag das Münster Richtung Sonntagsbratenduft verlassen, so geleiten sie rechts in der Turmhalle die „Klugen Jungfrauen“ und einige Premium-de-luxe-Heilige, die ihnen mitteilen, wie sie die kommende Woche leben sollen. Aber ganz vorne im Westen, grade vor dem Ausgang des Münsters, da grätschen gleichsam zwei Lottergestalten vor, Herr Welt und Frau Venus (oder wie wir sie sonst nennen sollen), die Rang, Macht, Geld und Sex repräsentieren, Inbegriff von fehlleitendem Begehrten. Aber sie dürfen da keine Werbung machen für ihre Sache, nein, im Gegenteil, sie sollen warnen: Seid nicht leichtsinnig, fromme Seelen, trotz aller guter Beispiele wacht der oder das Böse und will euch vom rechten Pfade abbringen.
Aber auch auf der linken Seite der Halle sieht der bzw. die kirchenflüchtige Bobbele Erbauliches. Da stehen nämlich die fünf „törichten Jungfrauen“ mit ihren traurigen Lampen ohne Öl (und ihrer Unkeuschheit im Herzen, wie das Mittelalter weiss). Aber sie haben eine wichtige Aufgabe in der Heilsgeschichte, da sieht der spottende Tor Parallelen zu sich, sie dienen nämlich als warnende schlechte Beispiele, und das können sie wirklich. (Und neben ihnen die sieben Freien Künste – sie wissen nicht recht, was sie hier sollen.) Und wiederum ganz vorne im Westen, unmittelbar zur Linken des Ausgangs, da grätschen förmlich wiederum zwei Gestalten vor, diesmal unsere beiden frommen Frauen, Margaretha mit dem Drachen und Katharina mit dem Rädle, – wie gegenüber die zwei Lottergestalten. Aber sie warnen nicht, sie sprechen Mut zu: Verzagt nicht, ihr lieben Freiburgerinnen und Freiburger, die Bösen mögen noch so zahlreich sein, aber Gott und seine Heiligen stehen euch hilfreich zur Seite. Und sie sind wirklich überzeugend, hat doch Margaretha den Teufel in Person, der sich ihr in Drachengestalt genähert hat, einfach mit dem Kreuzeszeichen abserviert. Und Katharina hat 50 neunmalkluge Philosophen und ihr ganzes heidnisches, irreleitendes Geschwätz als Superphilosophin aus der Kraft ihres Glaubens widerlegt.
Die übrige Redaktionskonferenz kann dem Ministranten nicht ganz folgen, der sich an Max und Moritz erinnert fühlt, wenn er die beiden so ziemlich kess in die Heilsgeschichte blicken sieht. Aber es stellt sich doch die Frage, wie die beiden, der Herr Welt mit seinem eitlen Schein und die Frau, vielleicht Frau Venus mit ihren aus- und einladenden Kurven, in die Turmhalle des Münsters geraten sind, wo es doch überwiegend keusch und fromm zugeht. Der Historisch-Kritische ruft den anderen in Erinnerung, dass die Turmhalle kein Museum schöner Statuen ist, die einfach so beieinander stehen, sondern – in ihrer Zeit für Analphabeten gebaut – Katechismus und biblische Geschichte in einem und in Auswahl und Anordnung der Figuren von theologischem Sachverstand kunstvoll komponiert ist. Und wenn das Freiburger Gottesvolk seit 700 Jahren nach absolvierter Messe durch die Turmhalle hindurch dem Sonnenlicht und dem Sonntagsbraten zusteuert, so hat es zur Rechten leuchtende Beispiele der Tugend: Fünf Kluge Jungfrauen und Heilige von der besten Sorte wie Johannes den Täufer und Maria Magdalena. Aber vorne, ganz im Westen und den Ausgang leicht versperrend, kriegen die scheidenden Frommen noch einen Appell mit: Auf der rechten Seite, der des guten Weges also, steht die Warnung: Wiegt euch nicht in falscher Sicherheit, das Böse lauert immer und überall und ködert euch; verlockend stehen da Herr Welt und die nackte Frau, also Sex, Rang und Prestige, Macht und Geld. Und wohin die zwei führen, das sieht man, wenn man sich nochmals umdreht, im Tympanon, in der dritten Zeile von unten ganz rechts: in den Höllenrachen. Das Münster verkündet eben immer Froh- und Drohbotschaft.
Vielleicht maximal eine von 100 000 Personen, die durch das Münster ziehen, wird diese anmutige Heilige wahrnehmen. Sie steht im äussersten südwestlichen und meistens sehr dunklen Eck der Turmhalle und ist die heilige Margaretha von Antiochien, in der Ostkirche als Marina bekannt. Dass sie wirklich um das Jahr 304 als Märtyrerin gestorben ist und davor auch gelebt hat, wie ihre Legende erzählt, ist sehr, sehr unwahrscheinlich. Die Legende folgt einem Grundtyp, der beliebig mit Frauennamen ausgefüllt und mit pervers-grausigen Details ausgeschmückt werden konnte: Wunderwunderwunderschöne edle Tochter aus gutem Haus ist bzw. wird Christin, verspricht sich vorbehaltlos Christus als ihrem himmlischen Bräutigam, wird dann von einem irdischen, mächtigen Möchteger-Bräutigam entdeckt, der meint, sie solle Christus lassen und ihn nehmen; er wisse ihre irdischen Reize besser zu würdigen. Sie will nicht, er reagiert sehr unnett, sie stirbt als Märtyrerin. Margaretha gab es also vermutlich gar nicht, aber nachgewirkt hat sie mit Macht, war eine der prominentesten und beliebtesten Heiligen des Mittelalters, eine der 14 Heiligen Nothelfer und eine der vier „virgines capitales“, was man wohl mit „Hauptjungfrauen“ übersetzen kann . Da sie auch dem Teufel persönlich, der sie in Drachengestalt attackiert hat, Paroli geboten hat, ist ihr Maskottchen und allgegenwärtiges Erkennungszeichen ein bisweilen putziger kleiner Drachen. Auf unserem Bild windet er sich zu ihren Füssen und hebt sein wenig furchterregendes Häuptchen.