Auf der Südseite der Turmhallenwand, rechts von den liederlichen „törichten Jungfrauen“, stehen die allegorischen Gestalten der sieben „Freien Künste“, der „ Artes liberales“ der Spätantike und des Mittelalters: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Sie gliederten die Vorstellung davon, was ein „freier“, hier im Sinne von nicht zu körperlicher Arbeit verdonnerter Mann beherrschen musste, um als gebildet zu erscheinen, und danach auch die Struktur der neu entstehenden „Artistenfakultät“ der Universitäten. Hatte man sie absolviert, konnte man sich einer der anderen „Fakultäten“, Theologie, Recht, Medizin zuwenden. Die strenge Frau hier ist die „Grammatik“, zweifelsfrei erkennbar an der Zuchtrute, die sie verheissungsvoll in die Höhe hält.
Fragt sich nur, was sie und ihre sechs Schwestern an dieser Stelle des Münsters sollen. Haben sie sich nur verlaufen oder hat ihr Platz neben den tadelnswerten „törichten Jungfrauen“ etwas zu bedeuten?
Im Matthäusevangelium (25, 1-13) erzählt Jesus bekanntlich die Beispielgeschichte von zehn jungen Frauen, die zu einer Hochzeit eines vielbeschäftigten Mannes eingeladen waren; der Mann hat sich masslos verspätet, und die zehn jungen Damen legten sich schlafen. (Was die Braut tat, ist nicht überliefert; der Tor hätte, wie er sagt, die Verlobung gelöst, aber dann würde uns ein schönes Gleichnis fehlen.) Allerdings hatten nur fünf von ihnen Öl für ihre Lampen dabei, mit dem sie dem Brautpaar wohl heimleuchten wollten. Die anderen mussten, wie der überbeschäftigte Herr endlich kam, zu nachtschlafender Zeit erst welches kaufen, verloren viel Zeit und kamen gar nicht mehr in den Festsaal hinein. Sie wurden für die folgende Tradition zu den „törichten Jungfrauen“, die deutlich sichtbar machten, wie man nicht sein und leben sollte, vor allem auch deshalb, weil sich irgendwann im Mittelalter herausgestellt hatte, das sie nicht nur unterbelichtet, sondern auch unkeusch waren. Die anderen hingegen, die Öl hatten und mitfeiern konnten, wurden die „klugen Jungfrauen“. Die beiden Gruppierungen wurden in der Kunstgeschichte, vor allem bis in die Gotik, dankbarer Stoff für Kunst, so auch in der Turmhalle unseres Münsters. Die „klugen“ finden sich auf der Nordseite der Halle, wo die positiven Beispiele christlichen Lebenswandels dargestellt sind, die „törichten“ gegenüber als Beispiele dafür, wie man es nicht machen soll.
Die schöne junge Frau hier ist eine der fünf „Klugen“, erkennbar daran, dass die Lampe in ihrer Hand aufgerichtet ist, also brennt. Über ihrem blonden Haar liegt ein Schleier, und das ganze ist zusammengehalten von einem Haarreif. Unter ihrem schön geschmückten Oberkleid, der „Cotte“, trägt sie ein feines Unterkleid, dessen längere, eng anliegende Ärmel bis zu den Handgelenken reichen. Die Münsterfiguren wirken teilweise so, als wären sie einem Katalog der hochmittelalterlichen Freiburger Schneider für gehobene Ansprüche entsprungen.
Eigentlich müsste man ihn wegen unterlassener Hilfeleistung belangen, den Engel, der nur interessiert zuschaut, wie der Henker des Herodes dem armen Johannes den Kopf abhaut. Was da passiert, ist ja keine Justiz, nicht mal ein Justizirrtum, sondern einfach nur Willkür eines drittklassigen Lokalherrschers von Roms Gnaden. Erinnern wir uns: Herodes hatte in den Augen des sittenstrengen Johannes Ehebruch begangen, und Johannes hatte das lautstark beanstandet, was dem Objekt der herodianischen Begierde auf den Geist ging. Es, also die Herodias, erbat sich deswegen bei sich bietender Gelegenheit – Herodes meinte, ihrer Tochter was schuldig zu sein – den Kopf des Johannes, was der bekanntermassen nicht überlebte. Und so wurde Johannes, seiner Zeit weit voraus, zu einem der ganz grossen Heiligen der christlichen Kirchen.- Soweit waren wir uns in der Redaktionskonferenz einig. Aber dann sinnierte der Tor: Vielleicht gibt es einen ganz einfachen Grund für die Untätigkeit des Engels. Immerhin war Johannes auf dem Markt endzeitlicher Erweckungsbewegungen im 1. Jahrhundert Mitanbieter und somit Konkurrent zu Jesus. Vielleicht sieht der Engel die Massnahme des Herodes als eine Marktbereinigung im Interesse seines Juniorchefs, in die er nicht eingreifen wollte. Die übrige Redaktionskonferenz drückte dieser These gegenüber ihre Missbilligung aus. Dargestellt ist die Szene im Gewände des Innenportals in der Turmhalle, im Sockel unter dem mittleren heiligen Dreikönig, dem wir den Namen Melchior gegeben haben.
Dieses Foto zeigt einen Ausschnitt aus einer Scheibe des Schumacherfensters. Das Hauptthema des Fensters ist die Passion Christi; die Scheibe hier zeigt, wie Jesus das Kreuz zum Galgenberg schleppt. Und neben ihm trottet vergnügt – wer wohl? Ein Jude, kenntlich am typischen Hut, mit Hammer und Nägeln, die den Gottessohn am Kreuz befestigen sollen. Das Todesurteil war durch den Römer Pilatus erfolgt, aber bei seiner Exekution sind, wie unser Bild zeigt, die verräterischen Juden fleissig dabei. Und deswegen dürfen, ja müssen wir sie christlich hassen. Dieses Bild lehrt uns, dass unser Judenhass rechtens ist – scheinbar. In Wirklichkeit ist‘s grad anders rum: Nirgends spricht die Bibel von einer handgreiflichen Beteiligung von Juden bei der Ermordung Jesu; sie war Sache von Soldaten der römischen Besatzungsmacht. Die Erfindung der jüdischen Mitwirkung soll den Judenhass schüren und legitimieren und ist selber eine üble Manifestation dieses Hasses, der 1349, etwa 30 Jahre nach der Schaffung dieses Fensters, in die schreckliche Vernichtung der Freiburger Juden im Vorfeld der Pestjahre um 1350 mündete.
Diese Scheibe stammt aus dem Radfenster des südlichen Querhauses. Sie ist eine von sechs Scheiben im „Frauenfenster“, das offiziell als „Fenster der Demut“ bezeichnet wird und 6 Frauen zeigt, „die ihr Leben dem Dienst an anderen gewidmet hatten“ (Grosses Münsterbuch des Münsterbauvereins). Phöbes Frage, wo das gendermässig korrekte Äquivalent mit 6 mustergültig demütigen sechs Männern sich befinde, führte zur Feststellung, dass es keines gibt. Phöbe äusserte die Absicht, dieses Fenster, das nur überholte Klischees zu Wesen und Standort der Frauen in Kirche und Welt transportiere, demnächst mit einem Pflasterstein zu bedenken. Wir Männer rieten davon ab. Wir waren aber alle überrascht, dass dieses vom Motiv her doch sehr traditionell wirkende Werk münsterrelativ jüngsten Datums ist: Es wurde 2006 von dem aus Freiburg stammenden Künstler Hans Günther Van Look geschaffen.
Auf dieser Scheibe des Frauenfensters ist offensichtlich auch ein Mann abgebildet, befremdlich. Aber er ist nicht als solcher da, sondern nur, damit man die dargestellte Frau erkennt. Wie das Kleinkind Unsere Liebe Frau und die Salbdose die Maria Magdalena kennzeichnen, kennzeichnet dieser ausgemerkelte Asket, der in das kollektive katholische Gedächtnis als heiliger Nikolaus von der Flüe eingegangen ist, diese Dame als seine Frau Dorothea Wyssin.
Es gibt sehr wenig als gesichert geltendes Wissen um sie. Geboren etwa 1432, war sie 15 Jahre jünger als ihr Mann, der sie als 15-jähriges Mädchen heiratete. Es folgten dann 20 Jahre Ehe mit einem endlosen Tick (Schwangerschaft) und Tack (Stillen). Denn in dieser Zeit stellten sie gemeinsam 10 stramme Kinder auf die Beine. Dann – er war inzwischen 50, sie 35 Jahre alt – kam er auf die Idee, Eremit zu werden. Erst ging er richtung Elsass, kam von dort aber spornstreichs zurück; die einen sagen wegen einer himmlischen Eingebung, andere sagen, unterwegs sei er gewarnt worden, man würde ihm sein Gottesmannsein nicht abnehmen, sondern ihn als mutmasslichen Spion an den nächsten Baum hängen. Er kam nicht nach Hause, sondern ging am Haus vorbei und hinab in eine dahinter befindliche Schlucht, wo er die restlichen 19½ Jahre seines Lebens als Eremit verbrachte. (Ein unschätzbarer Vorteil dieser Ortswahl ist, dass man als Pilger die wichtigsten Stätten seines Erdenwallens, Geburtshaus, Wohnhaus und Klause, auch mit gelegentlichen Gebetspausen an einem Vormittag schaffen kann.) Sie lebte mit den Kindern alleinerziehend oben in ihrem Bauernhaus. Sicher ist, dass er keinen Unterhalt bezahlt hat. Seine Sympathisanten werden nicht müde zu betonen, dass der älteste Sohn bei seinem Auszug schon knapp 20 Jahre alt war und als vollwertiger Chef die Leitung des Familienbetriebs übernehmen konnte. Offenkundig hat, wie der Tor betont, die Abwesenheit des religiösen Spinners das Funktionieren des vonderflüeschen grossen Bauernhofs nicht beeinträchtigt. Die Kinder machten anscheinend alle Karriere; der Jüngste studierte an mehreren europäischen Universitäten, machte seinen Master of Arts und wurde Priester. Bruder Klaus, wie er sich inzwischen nannte, starb 1487, 70 Jahre alt; wie lange Dorothea ihn überlebte, ist unbekannt.
Wie die auch für Dorothea und die Kinder einschneidende Entscheidung zustande kam, darüber diskutierten wir in der Redaktionskonferenz. Da Nikolaus bekanntermassen ein Heiliger war und damit kein Macho sein konnte, folgert die fromme Phantasie unseres Ministranten, dass sie beide zusammen nach reiflichem gemeinsamem Nachdenken und Beten diesen Beschluss gefasst haben müssen. Das berichtet auch die fromme Literatur über die beiden, in der es auch darum geht, Dorothea als aktiven Teil in dem heiligen Geschehen des heiligen Lebens des heiligen Nikolaus darzustellen, um Argumente für ihre mögliche und von manchen ersehnte Heiligsprechung zu haben. Der Tor mit seiner unfrommen Phantasie meinte, sie sei sicher heilfroh gewesen, der Angst vor der unausweichlich drohenden nächsten Schwangerschaft ein für alle Mal enthoben gewesen zu sein. Und auch das übrige Leben mit einem spätmittelalterlichen Mystiker sei sicher kein Schleck gewesen. Diese Bemerkung beurteilten wir anderen als unqualifiziert.
Der Historisch-Kritische machte sich kundig. Der Analphabet Nikolaus hat natürlich selber nichts Schriftliches hinterlassen, aber er war sehr bekannt in ganz Europa, vor allem weil er sich offenkundig nur vom eucharistischen Brot und Wasser ernährte. Deswegen sprechen zahlreiche Quellen von ihm und berichten von Äusserungen aus seinem Munde. Anscheinend vermittelte er den Eindruck, Dorothea habe voll hinter seinem Entschluss gestanden. Ein anderer Text lässt allerdings aufhorchen: Ein früher Biograph, Heinrich Wölflin, der seine lateinisch verfasste Arbeit im Jahr 1501, also 14 Jahre nach Nikolaus‘ Tod, abschloss und ihn nicht persönlich gekannt hatte sondern viele mehr oder weniger seriöse Quellen verwandt hat, äusserte sich auch zur ehelichen Entscheidfindung: Er weiss, dass Dorothea „seine treue Beraterin“ war, aber auch dass Nikolaus für diesen Schritt nach der Rechtslage ihre Erlaubnis brauchte. „Er gab sich grösste Mühe, sie zu überreden, was aber lange, weil mit den häuslichen Sorgen enge verknüpft, umsonst war….Als er sie immer wieder drängte, gab sie schliesslich, widerstrebend und unter vergeblichem Flehen, ihre Zustimmung.“ Andere Quellen lassen vermuten, dass er vor seinem Aufbruch zwei Jahre lang in einem schrecklichen Zustand war. Angesichts eines schlimmen Unrechts, das er nicht verhindern konnte, habe er alle öffentlichen Ämter niedergelegt, moderne Interpreten sprechen von schweren Depressionen und krampfartigen Anfällen. Und er wollte nur eines, seiner wahrgenommenen Berufung zum Eremiten folgen. Mit schwerer psychosomatischer Erkrankung hat er schliesslich seine Frau gezwungen, ihn gehen zu lassen, wie der Tor zusammenfasste.- Sie gingen im Guten auseinander, sie nähte ihm sein Eremitengewand und hielt weiterhin Kontakt; bei seinem schmerzlichen Tod war sie, wie man sagt, zugegen.
Dass sie ihn gehen liess, weil sie ihn nicht halten konnte – rechtfertigt das eine Heiligsprechung? Phöbe ist aus grundsätzlichen Erwägungen dagegen: Nur jetzt keine Alibi-Pseudoehrung einer Frau, anstatt Frauen in der katholischen Kirche endlich menschlich, das heisst gleichwertig zu behandeln. Aber der Ministrant ist dafür, dass Dorothea Wyssin – von der Flüe heiliggesprochen wird und zur Patronin der Alleinerziehende ernannt wird.
In der Laibung des Schöpfungsportals ist, wie der Name sagt, der Weltschöpfer am Werk, zehnfach. Hier auf dem Bild schafft er den Himmel mit seinen Sternen. Die zehn Figuren sind nicht aus einem Guss sozusagen, fünf von ihnen sind etwa 50 Jahre vor dem Bau des Portals und somit nicht für diesen Ort geschaffen worden und lagen sozusagen „auf Halde“. Sie wurden dann in die neuen Archivolten eingepasst und unterscheiden sich nicht nur im verwendeten Gestein, sondern auch im Stil. Besonders schön sieht man den Unterschied der göttlichen Frisuren. Unser Weltallschöpfer hier gehört zur älteren Kohorte.
Manchmal bekommt der Ministrant einen samtenen Glanz in den Augen, wenn er theologisiert. So auch in der letzten Sitzung unserer Redaktionskonferenz: „Wie Gott doch pädagogisch wohl dosiert dem Menschen in seiner Geschichte mit dem Volk Israel das unfassbare Wesen seiner Existenz als einziger Gott, der alles schafft und alles wunderbar erhält, schrittweise nahegebracht hat. In frühen Zeiten offenbarte er sich als ein Gott scheinbar neben anderen, als Gott Jahwe im vorderasiatischen Götterinnenhimmel. (Aus Angst vor Phöbe drückt er sich gendermässig sehr korrekt aus.) Dann tat er seinem Volk kund, dass er wollte, dass sie nur ihn verehrten, und schliesslich zeigte er ihnen, dass die anderen Göttinnen und Götter gar nicht existierten. Und so hat sich, Gott sei Dank, die Idee des Monotheismus durchgesetzt.“
Da funkelte das Auge des Toren ganz anders, streitlustig und spöttisch. Er glaube nie und nimmer an Ideen, die sich von alleine durchsetzten. Immer seien es Menschen, die ihre Ideen propagierten. Bei gelegentlichem Krimikonsum habe er gelernt, dass man Täter leicht entdecken könne, wenn man frage, wer ein Motiv hatte, und das seien meistens die, denen etwas nützte. Folglich müsse man fragen, wem die Idee von Jahwe als einzigem Gott nützte. Dafür komme nur eine einzige Gruppe in Frage, nämlich die der Priester an Jahwetempeln. Dort wurde geopfert, so führte der spottende Tor aus, und die Opfer waren die Einnahmequelle und somit Lebensgrundlage der Priester. Der Markt für Opferdienstleistungen war aber wie jeder Markt begrenzt, und Priester mit ihren Tempeln für andere Götter waren unliebsame Konkurrenz. Mit der Idee, Jahwe wolle, dass man nur ihn in Israel verehre, und ihrer Überhöhung, es gebe nur Jahwe und keine anderen Götter, war ein Instrument einer radikalen Bereinigung des israelischen Opferdienstleistungsmarktes gefunden. Gekrönt wurde das Ganze schliesslich, meinte der Tor, von der Jerusalemer Tempelpriesterschaft mit der erfolgreich propagierten Idee, Jahwe wolle nur am Jerusalemer Tempel verehrt werden. Die Schätze, die die römischen Truppen bei der Eroberung Jerusalems im Jahr 70 vorfanden, waren gewaltig. Verglichen mit dieser geistlichen Profitstrategie war die spätmittelalterliche Idee, man könne und müsse kirchliche Ablassbiefe für Seelenheil kaufen, kleinkariert.
Der Tor war sehr zufrieden. Der Historisch-Kritische meinte hingegen, das sei doch alles sehr mit der heissen Nadel gestrickt. Die Rolle der Propheten, die doch wohl als eigenständiger und vielschichtiger Faktor in der Theologieentwicklung Israels gewirkt hätten, sei da gar nicht berücksichtigt. Und überhaupt, allzu einfache Darstellungen komplizierter historischer Abläufe seien ihm immer suspekt. Phöbe führte das Protokoll, ich kochte den Kaffee, so konnten wir uns problemlos der Stimme enthalten.
Einen Kranken besuchen, das tut die Dame hier auf dem Bild, die personifizierte Barmherzigkeit. Und sie begegnet dabei, wenn man Jesus (vgl. Mt 25,34ff) glauben will, ihrem Gott und Erlöser. Das Foto zeigt eine der sechs wunderschönen Scheiben des romanischen Barmherzigkeitsfensters, entstanden in den Jahren um 1250. Es befindet sich im Radfenster des nördlichen Querhauses.
Es war eine sonderbare Männergesellschaft, von der uns der Historisch-Kritische nach der Diskussion dieses Bildes in sehr lockerer Assoziation erzählte. Jeder der daran Beteiligten hatte seine Eigen-Arten. Da war zum Beispiel Manni. Er regte sich sehr schnell auf und reagierte dann bisweilen ziemlich unangemessen. Ferner war er sehr fromm. Beides war wohl im Zusammenhang zu sehen mit einem Zusammenstoss, den er auf seinem Moped mit einer Strassenbahn gehabt hatte – schweres Schädel-Hirn-Trauma. Einmal wurde das Ansinnen an ihn herangetragen, doch bitte seine Medikamente einzunehmen. Das regte ihn sehr auf und er begann, lauthals zu schimpfen. Da trat Andi in Erscheinung . Seine Eigen-Art war, dass er keine besonderen Eigenarten hatte. Er war sympathisch, intelligent, immer freundlich, zuvorkommend und hilfsbereit; wie er es mit der Religion hielt, ist nicht bekannt. Er ging hin zu Manni und sagte ganz ruhig: „Bitte nimm die Medizin, Manni. Du weisst doch, der liebe Gott will das.“ Manni beruhigte sich schlagartig und nahm die Tabletten, es brauchten keine Pfleger mit Zwangsmassnahmen einzuschreiten, und es herrschte wieder Ruhe auf Station E der psychiatrischen Klinik in B. Andi war übrigens weder Pfleger noch Arzt, sondern ebenfalls so etwas wie Patient, aber er war nicht da zur Therapie, sondern für ein psychiatrisches Gutachten im Auftrag der Justiz: In einer schrecklichen Nacht hatte ihn seine schreckliche Eifersucht vollends übermannt und er hatte seine schlafende Frau und ihr gemeinsames Kind erwürgt. Weil er nach psychiatrischem Urteil keinerlei Eigen-Arten aufwies, fand besagte Justiz es für angebracht, seine Tat mit 15 Jahren Freiheitsentzug zu ahnden.
Nach dieser Geschichte trällerte der Ministrant: „Ubi caritas et amor, deus ibi est = Wo Zuneigung und Liebe, da ist Gott“, eine alte Antiphon aus dem Gründonnerstagsritual der katholischen Kirche. Und dann stellte unser hoffnungslos romantischer Frommer lakonisch fest: „Zwischen dem Mörder und dem Irren hat sich also Gott abgespielt.“ Der Tor war an der Grenze seiner Belastbarkeit, nicht nur wegen der politisch völlig inkorrekten Ausdrucksweise des Ministranten.
Zu Beginn seiner Studien der Gottesgelehrsamkeit nahm ein höheres Semester den Historisch-Kritischen mit ins Münster, um ihm die Schönheiten dieses Bauwerks näher zu bringen. Seine Mühen waren für die Katz, der Historisch-Kritische hatte andere Probleme, und so ging ihm das ganze Münster am Sitzkissen vorbei. Nur etwas blieb haften und ihm für Jahrzehnte in Erinnerung: Die Wolfsschule. Am Durchgang zum spätgotischen Chor, der ursprünglich in die spätromanische Nikolauskapelle geführt hat, kann man in einem zweibildrigen Cartoon sehen, wie ein Mönch den Wolf domestizieren will, mit Rute und ABC, und der Wolf gibt sich im ersten Bild Mühe und schreibt brav. Allerdings ist da ein Schaf, das ihn etwas ablenkt, und zwar auf Dauer so sehr, dass er sich ihm im zweiten Bild voll zuwendet, was wütende Schläge des frommen Gottesmannes zur Folge hat. Leider fehlt das dritte Bild, und so wissen wir nicht, ob der Wolf sich überzeugen liess und zum ABC zurückkehrte oder ob er die geistig-geistlichen Studien an den Nagel hängte und sich definitiv für das Schaf entschied. Der Historisch-Kritische sah damals im Wolf einen Schicksalsgefährten, ja Bruder, wie er der Redaktionskonferenz gestand. Er fügte hinzu, er selber habe sich schlussendlich für das Schaf entschieden.
Wie wir so vom Wolf geredet haben, brachte der Ministrant einen anderen Wolf zu Sprache, den Prof. Dr. Hubert Wolf, Professor für Kirchengeschichte an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Münster, bekannt weit über die Grenzen seiner Fachkolleginnen und –gen. Er berichtete von dessen Interview in der „Frankfurter Rundschau“ im August 2020, dem Interview, in dem Wolf einem breiteren Publikum ja unmissverständlich klar machte, was für ein unheilvoller Unsinn die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit und des Jurisdiktionsprimats im Jahr 1870 waren, ein Unsinn, an dem die Kirche jetzt seit 150 Jahren leidet. (Ausführlicher hatte er dieses Thema zuvor schon in einem Buch über Papst Pius IX. behandelt.) Der Ministrant wunderte sich, dass Wolf so etwas wagte; wir Älteren erinnern uns ja noch sehr gut an die Fälle Drewermann und Küng. Aber wir kamen zum Schluss, dass die Zeiten sich geändert haben: Nach all den Skandalen will nicht einmal der geistärmste kirchliche Betonkopf das Risiko eingehen, das mit einer Schlagzeile in der Bildzeitung verbunden wäre: „Vatikan bindet Wolf Maulkorb um“; damit hätte Prof. Wolf einen gigantischen Resonanzboden, und die Kirchenaustritte nähmen wieder zu. Was das Interview und das Buch bezweckten jetzt vor der zweiten Etappe der Wanderung auf dem „synodalen Weg“, schien uns klar: Wolf als prominentes Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken machte unmissverständlich klar, dass die Totschlagkeule jeder Argumentation: „Das lässt Rom nicht zu“, nicht mehr wirkt. Der Ministrant bekam glänzende Augen, weil er neue Hoffnung für die katholische Kirche schöpfte.
Er wollte schon immer hoch hinaus, der Grosse Alexander. Und nachdem er die halbe Welt erobert, hatte, wollte er buchstäblich in den Himmel. Die Konstruktion war genial: An eine Art Ballonkorb liess er an zwei Leinen oder Ketten zwei Greife festbinden, die diesen Korb mit ihm drin hochheben sollten. Und damit sie Richtung hielten – wie Pferde Dressieren war bei diesen Fabelwesen ja nicht drin – hielt er ihnen in der gewünschten Richtung an einer Stange je einen toten Hasen vor den gierigen Schnabel. Die Sache funktionierte, wie er seiner Mutter schrieb, fand allerdings ein Ende, bevor er ganz oben war, weil ein überirdisches Wesen, dessen Natur unklar ist, ihn zur Rückkehr aufforderte; er gehorchte prompt. Jedenfalls war er sehr hoch gelangt, und er landete wohlbehalten 10 Tagesmärsche weit vom Startpunkt. (Hoffentlich hatte er es wie mein Bekannter, der Heissluftballon fuhr, geregelt: Seine Freundin verbrachte die meisten Sonntage im VW-Bus, aus dem sie mit dem Feldstecher verfolgte, wohin die Winde ihren Jupp entführten, um ihn am Abend samt Fluggerät dort aufsammeln zu können.) Diese Geschichte von Alexanders Greifenfahrt kennen wir aus dem „Alexanderroman“, der in unterschiedlichen Fassungen seit der Spätantike verbreitet war und im Mittelalter angeblich das nach der Bibel meist verbreitete Buch Europas war. Der Tor meint dazu, dass es Alexander wie Jesus ging, nur nicht ganz so schlimm; über beide seien Dichtung und Wahrheit in einem nicht entwirrbaren Knäuel verknotet. Die Geschichte wurde häufig in der darstellenden Kunst aufgegriffen, so auch im Basler Münster und, wohl von der gleichen Steinmetzwerkstatt geschaffen, auch bei uns.
Wir finden die Darstellung im Portal der alten Nikolauskapelle, die 1507 zum blossen Durchgang in den spätgotischen Chorumgang degradiert worden ist. Sie ziert rechts oben ein Kapitell. Uneinig waren wir uns in der Redaktionskonferenz über die Bedeutung des Kunstwerks. Der Ministrant referierte, was man gängigerweise dazu liest: Alexander ist das abschreckende Beispiel für eine ganz schlimme sündige Fehlhaltung, für die Hoffahrt und den Hochmut. Und nur so, als Beispiel für Sünde, hat die Geschichte eine Legitimation, in diesen Heiligen Hallen vorzukommen. Der Historisch-Kritische meinte, so könne man die Geschichte nur lesen, wenn sie zuvor mit einem gehäuften Esslöffel „Doppelmoralinsauer forte“ nach Art des christlichen Hauses abgeschmeckt worden sei; davon stehe im Alexanderroman überhaupt nichts. Und ins Münster sei die Geschichte gekommen wegen der sattsam bekannten Freude der romanischen Steinmetze und ihrer Auftraggeber am Fabulieren. Erst in der Gotik hätten sich puristische theologische Spassbremsen durchgesetzt und der Mummenschanz sei aus dem Kirchenraum verschwunden; nur letzte Reste hätten sich am Dachtrauf verfangen und hätten als die bizarren gotischen Wasserspeier überlebt.
In Monteverdis „Marienvesper“ aus dem Jahr 1610 jubelt Maria mit Worten der Geliebten aus dem alttestamentlichen „Hohen Lied“. Sie jauchzt, weil Gott sie liebenswert findet: „Nigra sum, sed formosa, filiae Jerusalem…“ – „Braungebrannt bin ich, doch schön, ihr Töchter Jerusalems; darum hat mich der König lieb gewonnen und hat mich in sein Gemach geführt…“
Ernst wurde das mit Mariens Himmelfahrt, die bekanntlich am 15. August gefeiert wird. Und dort wartete eine weitere höchst erfreuliche Überraschung auf sie: Sie wurde zur Himmelkönigin gekrönt. Diese Szene ist dargestellt in luftiger Höhe im Wimperg über dem Hauptportal des Münsters in der Westwand des Turms. Maria sitzt ihrem göttlichen Sohn gegenüber, und Engel lassen ihre Himmelsköniginnenkrone auf sie herabschweben. Wie das logistische Problem, dass sie schon eine Krone auf dem Kopf hat – als Mutter (des) Gottes war sie schon hoch dekoriert – gelöst wurde, darüber lässt uns der ausführende Steinmetz im Unklaren.
Das Foto zeigt das Original des Kunstwerks, das inzwischen durch eine Kopie ersetzt wurde und jetzt im Augustinermuseum auf dem Altenteil sich ausruht von seiner jahrhundertelangen Verkündigungsarbeit. Es entstand etwa um das Jahr 1280 und ist offenkundig inspiriert von einem gleichsinnigen Werk an der bedeutenden französischen Kathedrale von Reims. An prominenter Stelle im Münster haben wir noch eine künstlerische Bearbeitung des Themas der Marienkrönung, das Zentralbild des Hochaltars von Hans Baldung Grien. Gut 230 Jahre jünger zeigt es eine bemerkenswerte Variation des Themas: Hier im Tympanon des Westportals wie auch sonst in dieser Zeit krönt nur der Sohn die Mutter, in der späteren Darstellung von Hans Baldung wie auch sonst in Darstellungen seiner Zeit bewerkstelligt das Gott Sohn zusammen mit Gott Vater.