Wer in der Gotik schön sein wollte, musste ein leichtes Doppelkinn haben. Dieser Herr ist schön. Aber mehr als 99 von 100 Münsterbesuchern sehen ihn nicht, denn er hält sich bescheiden im dunkelsten Nordwesteck der wunderschönen Turmhalle des Münsters auf. Mit zwei weiteren Figuren bildet er eine der schönsten und bemerkenswertesten Figurengruppen des ganzen Münsters. Seine Kollegen und GegenspielerInnen dort sind zum einen der „Mundus“, der „Herr Welt“ mit all seinen Verlockungen zur Sünde, zum andern eine verführerische, fast nackte Frauengestalt, die als „Voluptas“, „Wollust“ bezeichnet wird, aber das scheint mir nicht ganz zuzutreffen; mir kommt die Assoziation an die „Frau Venus“ aus der Tannhäusersage; jedenfalls ist sie von Grund auf schlecht und zur schlimmsten aller Sünden verlockend. Und unser schöner Engel steht daneben und warnt vor beiden mit seinem Spruchband: „Ne intretis“, „Geratet nicht (in Versuchung)“; er ist ein „Warnungsengel“, wie Dieter G. Morsch ihn in seinem schönen Buch über die Turmhalle nennt. Die drei stehen da als Warnung für den frommen Beter. Der kommt aus der erbauenden Sonntagsmesse in die verlockend-verführerische Alltagswelt zurück, und da hat er in der Vorhalle zur Rechten leuchtende Beispiele der Tugend, die klugen Jungfrauen und diverse hochkarätige Heilige. Aber unmittelbar vor Verlassen der bergenden Mauern stehen da die beiden Bösewichte. Die Steinmetze bläuen uns förmlich ein: Bleibt immer wachsam, die Verführung lauert überall. Aber auch der Mutmacher ist da, der Engel, der mahnt und sagt: Du bist nicht allein gegenüber all den Verlockungen, Gott schützt dich mit der Kraft seiner Engel. Dieser Engel lächelt uns Mahnung, Zuversicht und Mut zu seit etwa 1290.
Mutter Anna mit Tochter Maria und der Geisttaube
Ein anmutiges Bild, auch wenn es im Laufe der vergangenen 680 Jahren bei mehrmaligem Ortswechsel und Restaurierungen etwas gelitten hat. Schade, dass man es kaum sieht, hoch oben im Obergaden des Mittelschiffs, schwer zu fotografieren (und hier etwas gestaucht wegen der extremen Untersicht). Es zeigt Anna, die Frau Joachims, mit ihrer spät und wunderbar doch noch gekommenen Tochter Maria auf den Händen, die dann ihrerseits Jesus zur Welt bringen wird. Mutter und Tochter sind aufgrund ihrer Kinder aufs Höchste geadelt, sind gekrönte Häupter. Über die Verwandtschaftsverhältnisse Marias sind wir nicht aus der Bibel informiert, sondern aus dem sogenannten Protoevangelium des Jakobus, einer frommen Schrift aus dem 2. Jahrhundert. Die kleine Maria hat einen Vogel auf der Hand.
Wenn das Jesuskind, wie oft dargestellt, einen Vogel auf der Hand sitzen hat, meinen wir Laien sofort, das sei eine Taube und damit der Heilige Geist. Denn bei der Taufe Jesu im Jordan ist bekanntlich derselbe in dieser Gestalt über denselben herabgekommen. Aber das ist häufig nicht der Fall, beispielsweise bei der Pestsäulenmadonna vor dem Hauptportal unseres Münsters, da hat das Jesuskind einen Distelfink auf der Hand mit ganz eigener Symbolik.
Auf diesem Bild scheint es sich aber wirklich um den Hl. Geist zu handeln, zum einen weil Frau Mittmann in ihrem Glasfensterbuch das sagt, und zum andern, weil der Vogel einen Heiligenschein hat.
Auf Marias rechter Hand sitzt also die Geisttaube, mit der linken fasst sie ein Buch an, das Mutter Anna hält. Maria hat eine hohe Affinität zu Büchern, denn als so etwas wie eine Tempeljungfrau war sie gebildet und belesen. Dieser Job war im alten Israel nicht gerade häufig, vermutlich war sie sogar die einzige, die ihn je ausübte. Davon wissen wir auch aus dem sogenannten Protoevangelium des Jakobus, in dem ein kleines bisschen zu viele Engel agieren, als dass man es für historisch aussagekräftig halten könnte. .
Die ganze Redaktionskonferenz einschliesslich Phöbe, unsere Teilzeitredaktionspraktikantin, besteht aus Kunstbanausen. Uns fehlt der Überblick. Vielleicht liegt es nur daran, dass wir diese Darstellung für bemerkenswert halten: Nicht Maria, die verkündigte, über die der Geist herabkommt, sondern das Kind Maria mit dem Geist-Vogel auf der Hand als wäre er ihr Spielgefährte. Sollte jemand von euch, liebe Besuchende unserer „Miniaturen“, aus vorbarocker Zeit eine vergleichbare Darstellung kennen, wären wir für die Nennung sehr dankbar.
300 Jahre später findet sich im Barock häufig ein scheinbar verwandtes Motiv: Die erwachsene Maria mit der Geisttaube auf der Hand, im Arm, auf dem Schoß, die manchmal sogar einen Ring für sie im Schnabel trägt. Die Bilder zeigen „Maria, die Braut des Heiligen Geistes“. Theologisch gesehen ist dieser Ehrentitel natürlich Schwachsinn, denn wie schon die 11. Synode von Toledo im Jahr 675 erklärt hat, ist der Heilige Geist nicht der Vater von Jesus, das ist vielmehr Gott-Vater, mit dem Maria aber auch nicht verlobt war. Maria war Braut des Hl. Josef und vermutlich danach seine Frau. Und ihr Kind hat sie, wie gesagt, von Gott-Vater. Was der Heilige Geist in dieser Patchworkfamilie darstellt, darüber zerbricht sich die Redaktionskonferenz noch die Köpfe. Phöbe schreibt vielleicht ihre Bachelorarbeit darüber.
Am Ende aller Tage
Am Ende aller Tage wird’s eng, da kommt es zum Gericht, wie uns allenthalben in der Bibel eingeschärft wird. Und das wird eröffnet von Engeln, die gewaltig den Gerichtstag mit Posaunenschall ankündigen und die Toten in ihren Gräbern wecken. Hier haben wir zwei von ihnen, man kann in Latein und Deutsch lesen, was sie dröhnend ankündigen: „Kommt zu dem Gericht!“ (Die hier verwenden speziell für eine Schweizer Klientel Alphörner.)
Engel sind himmlische Vielzweckwaffen. Phöbe, unsere bachelortheologiestudierende Redaktionsteilzeitpraktikantin, sollte recherchieren, was sie laut Heiliger Schrift und kirchlicher Tradition für Funktionen ausüben. Sie sagte, alles, was Gott wollte bzw. will, aber selber zu machen keine Lust hat, trägt er ihnen auf. Der Historisch-Kritische fügte hinzu: Am wichtigsten sei ihre historisch-kritische Funktion. Je mehr von ihnen durch einen Text flatterten oder gewaltig rauschten, desto sicherer könne man seine historische Wahrheit in Zweifel ziehen. Das hat ihm vor vielen Jahren ein theologischer Lehrer beigebracht.
Die Gestalten unter unseren Engeln brauchen keine Angst zu haben, sie gehören zu den bald in der Seligkeit weilenden Gerechten.
Die beiden himmlischen Boten befinden sich auf einer Scheibe des Konstanzer Fensters im rechten Seitenschiff. Es wurde hier in Freiburg aus unterschiedlichen gotischen Glasfenstern in den Jahren 1818/1819 zusammengesetzt. Die Stücke kamen aus dem Konstanzer Münster hierher zusammen mit der Würde der Kathedralkirche, die das Konstanzer Münster damals auch nach Freiburg abgeben musste. Die Engel wurden etwa 1430 in einer Ulmer Werkstatt gemalt.
Katharina
Das ist die heilige Katharina von Alexandrien mit Rädle und Schwert. Ihr Weg zur Märtyrerkrone war verschlungen, wie Phöbe, unsere Redaktionsteilzeitpraktikantin, recherchiert hat. Sie konsultierte dazu die „Legenda Aurea“ (= „Goldene Pflichtlektüre“), die famose Heiligenlebensammlung des Hochmittelalters. Erst wurde Katharina schrecklich geschlagen, dann zwei Wochen Einzelhaft ohne Essen und Trinken, dann sollte sie von einem furchtbaren Marterrad zerfleischt werden – deswegen das Rädle als kennzeichnendes Attribut – und schliesslich wurde sie enthauptet – daher das Schwert auf ihren Bildern. Dabei hat sie 50 Weise, 200 Ritter, einen hohen Offizier und eine Kaisersgattin nebenbei zum Christentum bekehrt, die allesamt unverzüglich gemärtyrert wurden. Das Marterrad funktionierte nicht, weil es von einem Engel zerschlagen wurde. Seine Trümmer töteten 4000 Heiden, die da rumstanden und kein Mitleid verdienen. Ja, und während dieser ganzen Prozedur hat sie drei Heiratsanträge des sie peinigenden römischen Kaisers ausgeschlagen. Und damit war sie so heilig, dass sie im Mittelalter nach der Jungfrau Maria die zweitwichtigste Heilige im römischen Olymp war. Katharina erfuhr posthum weitere Unbillen: In der Neuzeit meckerten Leute herum, sie sei gar nicht historisch, und im nachkonziliaren Überschwang wurde sie 1969 deswegen sogar aus dem offiziellen Römischen Heiligenkalender gestrichen. Aber unter dem Heiligen Papst JP II wurde sie 2002 wunderbarerweise wieder eingefügt, wofür sie diesem, als er auch im Himmel war, sicher ein wahrhaft himmlisches kollegiales Lächeln geschenkt hat.
Diese Rehabilitation sei richtig gewesen, meint der Tor, denn mit ihrem Nicht-historisch-Sein verhalte es sich komplizierter, zugleich sei sie nämlich auch historisch: Es gab, so meint er, nie eine christliche Frau namens Katharina, die in beschrieben komplizierter Weise um das Jahr 300 herum vom Leben zum Tod gekommen wäre. Wohl aber gab es eine heidnische Philosophin namens Hypatia, die im Jahr 415 grauenvoll zu Tode gequält worden ist. Zwischenzeitlich waren die Christen an der Macht, und vermutlich auf Betreiben des Heiligen (!!!) Patriarchen Kyrill von Alexandrien, eines gewaltbereiten Machtmenschen, war ein christlich-mönchischer Mob im Dienste der neuen siegreichen Wahrheit tätig geworden. Manche Historiker nehmen an, ihr schreckliches Schicksal habe mit leichten „Korrekturen“ die Vorlage abgegeben für die Katharinengeschichte.
Der Ministrant fragte sich und uns: Wie konnte jemand so bescheuert sein, so viel Blödsinn am Stück zu produzieren, und noch bescheuerter mussten und müssen die sein, die diesen Schwindel glauben. Der Historisch-Kritische gab zu bedenken, man müsse den antiken und frühmittelalterlichen Legendenschreibern zu Gute halten, dass sie doch in einer etwas schwierigen Situation waren: Sie mussten in einem Aufwasch das leisten, was heutzutage Rosamunde Pilcher, Stephen King und Pater Anselm Grün arbeitsteilig liefern. Und die Verehrenden der Heiligen tun das nicht aus ihrem Verstand heraus, sondern sie tun es um des Wohlfühlfaktors willen, einer der vor allem heutzutage mächtigen Triebfedern religiöser Existenzen, wie der Tor meint.
Aus dem Schneiderfenster schaut die Katharina der heutigen Miniatur seit etwa 1320 etwas skeptisch über uns weg an uns vorbei zur Madonna, die links von ihr lieblich lächelt. Wie Loriots Feuerwehrmann mit dem Ball, so spielt sie lässig mit ihrem Rädle.
Die Erschaffung Evas
Wie es sein Name sagt, sehen wir am Schöpfungsportal an der äusseren Nordwand des Chors Gott den Herrn mehrfach als Schöpfer voll in Funktion, insgesamt zehn Mal, sechs Mal an den sechs Schöpfungstagen und vier Mal sonst wie beschäftigt. Die zehn Kompositionen sind eingefügt in die Archivolte um das Tympanon über dem Portal; die Erschaffung unser aller Mutter findet sich links ganz unten. Damit wäre eigentlich der Streit zwischen Kreationisten, Intelligent-Design-Vertretern und Evolutionisten leicht zu entscheiden: Kommt nach Freiburg und ihr seht, wie es war und was da in sechs Tagen geschehen ist.
Hier auf dem Bild ist der Schöpfer mit seinen problematischsten Geschöpfen beschäftigt, den ersten Menschen, an denen er nicht lange ungetrübte Freude haben sollte. Adam ist fertig und liegt wegen der Brustkorboperation in Narkose schlafend da und zeigt uns seinen reizenden Rücken, Evchen wächst in Gottes fürsorglichen Händen als strahlender Brillant für die Krone der Schöpfung. Fragt sich der Ministrant: Warum konnte es nicht so idyllisch bleiben, vor allem, warum hat er ihnen die Sache mit dem Obst so krumm genommen? Mal ehrlich, er war doch mindestens so viel schuld am ganzen, hat er doch Eva so wunderfitzig und Adam so treudoof seinem Weibe ergeben geschaffen. Oder gilt das Verursacherprinzip nur im deutschen Umweltrecht?
Die Schöpferfiguren stammen wie die Sündenfallbildfolge von circa 1360, sind also etwa 70 oder 80 Jahre jünger als die Gestalten aus der Turmhalle. Trotzdem sind sie grober, urtümlicher, fast primitiv; man sagt, das sei Parlerstil.
Die Leibwächter der Sternenkleidmadonna
„Liebste Momo,
im Freiburger Münster steht innen am Hauptportal die wunderschöne Sternenkleidmadonna. Sie hat als Adjutanten zwei prächtige Engel, die man kaum sieht und die niemand beachtet, weil sie fast völlig im Schatten stehen. Ich bitte diese beiden Prachtskerle, heute Nacht bei Ihnen den Dienst als Schutzengel zu übernehmen und allen Gram von Ihnen fernzuhalten.
In diesem Sinn grüsst recht herzlich
Ihr HK.“
Während der Konferenz hat der Historisch-Kritische sich offensichtlich mit Sachfremdem beschäftigt. Der Ministrant schaute ihm schnell mal über die Schulter und entdeckte diese E-Mail mit diesem Bild auf seinem Rechner. Der Ertappte weigerte sich verlegen, nähere Angaben zu dieser Momo zu machen.
Noli me tangere – Fass mich nicht an
Der göttliche Vater hatte für den Sohn etwas vom Schrecklichsten vorgesehen, was einem Menschen passieren kann. Muss er dann – einfach der Gerechtigkeit wegen, wenn schon Mensch, dann ganzer Mensch – für ihn nicht auch die Freuden und Schönheiten des Menschseins bereitgehalten haben? Und da sind wir wieder einmal angelangt bei Mirjam aus Magdala, gewöhnlich als Maria Magdalena bezeichnet, und der Frage nach der Beziehung der beiden. Und da sind wir auch am Ostermorgen, wo Mirjam weinend am leeren Grab steht und den geliebten toten Mann sucht – und wie er leibhaftig-lebendig vor ihr steht, erkennt sie ihn vor lauter Tränen nicht, sondern hält ihn für einen Gärtner. Und dann nennt er sie beim Namen: „Mirjam“. Da fällt bei ihr der Groschen, das Ohr ist doch das soziale Organ Nr. 1. Und dann das verstörende „Fass mich nicht an!“ Er ist zwar vorhanden, aber nicht mehr zuhanden, warum auch immer. Das ist ein Wermutstropfen im österlichen Freudenbecher.
Hier wieder einer der schönen Schlusssteine aus dem spätgotischen Chorbau. Der hier befindet sich in der Blumeneckkapelle. Jesus wie üblich mit dem Spaten, obwohl er doch gar kein Gärtner ist; Maria hat ihre übliche Dose dabei.
Ein armer Hund
Die folgende Miniatur ist jugendfrei erst ab 16. Sie ist schrecklich, sie gefällt uns allen nicht.
In der Not frisst der Teufel Fliegen, und ein armer Hund auch das, was er kriegt. Der hier ernährt sich während der Kreuzigung Jesu von den Resten von Jesu Vorgängern. Diese Bilderzählung ist etwa um 1515 der etwas sperrigen künstlerischen Phantasie des Hans Baldung Grien entsprungen und findet sich auf der Rückseite des Hochaltars, ganz links unten im Eck der auch sonst schrecklichen Darstellung der Kreuzigung. Krasser geht nimmer. Was meinte Hans Querkopf damit? Phöbe hat recherchiert, fand aber nichts in den schönen Münsterbüchern. Sie machte uns selber einen Reim drauf.
In der sekundären Jesusbewegung, also im Denken und Reden der Überlebenden der Katastrophe der primären Bewegung, spielte der Tod Jesu am Kreuz eine zentrale Rolle, man ging diesen Grössten Anzunehmenden Unfall offensiv an: Nein, das war gar keine Panne, sondern es war (im wörtlichen Sinn) not-wendig. Und deswegen stand dieser Tod im Zentrum der post-jesuanischen Deutungen. Der grosse Propagandist Paulus sagt das so: „Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten…“ (1 Kor 22f.) Im Hoch- und Spätmittelalter, gerade durch die Mystik, die damals blühte, wurde das Bewusstsein von einem der vielen Aspekte dieses Geschehens, das vom schrecklichen Leiden des armen Menschen Jesus, entwickelt und gepflegt. Visualisiert wurde diese Sicht in spätgotischen Kreuzesdarstellungen und in Kunstwerken der Renaissance – in unserer unmittelbaren Nähe haben wir den Isenheimer Altar in Colmar, den im Grab liegenden Jesus in Basel und eben den Hochaltar des Münsters Unserer Lieben Frau. Da wird nichts beschönigt, dem Anhänger dieses Jesus, dem Christen, erspart Hans Baldung nichts von den schrecklichen Tatsachen seiner Erlösung: Verreckt ist der Herr, als Schwerverbrecher umgebracht unter Schwerverbrechern, die nicht einmal ein Grab bekommen, sondern von streunenden Hunden entsorgt werden. Der Ministrant war etwas überrascht, er hatte bisher gemeint, Mystik sei irgendwie etwas Kuscheliges. Ferner merkte er an, im Wohlfühlchristentum der Wohlstandsgesellschaft sei der Schrecken des Kreuzes bemerkenswert marginal geworden, wie ihm scheine.
Die Leseratte Maria
Hoch oben im Gewölbe des Eingangsraums innerhalb der Schöpfungspforte befindet sich dieser Schlusstein, etwa 70 cm gross. Ihn ziert das Bild einer gutgekleideten, üppig braungelockten jungen Dame, die lesend da kniet, während ein ziemlich dicker Vogel sich anschickt, auf ihrem Kopf Platz zu nehmen. Das sieht halb bedrohlich, halb komisch aus, wie der Tor bemerkt. Natürlich wissen wir gleich, wer das ist: Maria in dem Augenblick, in dem der Heilige Geist bei ihr folgenschwer vorbeischaut; jetzt endet ihre kurze Jugend. Eigentlich hat sich der Heilige Geist damals gar nicht blicken lassen und hat nur den Erzengel Gabriel sichtbar vorgeschickt, aber damit auch die etwas beschränkteren Christen (bei dem, was die sich zur Zeit von ihren Hierarchen bieten lassen, sind das so ziemlich alle, wie der Tor meint) kapieren, was abgeht, hat der Steinmetz die Geisttaube hinzugefügt.- Besagter Erzengel Gabriel ist auf dem Schlussstein des Gewölbes des Chorumgangs vor dem unmittelbaren Eingangsbereich dargestellt. Er war das Thema unserer letzten „Miniatur“.
Maria wird bei der Lektüre gestört, erklärt uns Phöbe, unsere Teilzeitredaktions-praktikantin. Vor sich hat sie ein geniales Vielzweckmöbel für im Tiny House, enorm platzsparend: Betschemel, Lesepult und Bücherschrank in einem. Sie liest in der Heiligen Schrift nach – natürlich hat sie nur das Alte Testament zu Verfügung, das Neue war damals im Frühjahr des Jahres 6 v.Chr. noch nicht publiziert -, was über sie dort prophezeit ist. Sie kann nämlich lesen, und deswegen tut sie das und wird seitdem auf sehr vielen Darstellungen der Verkündigung mit einem Buch dargestellt. Das hat sie in den etwa 9 Jahren gelernt, als sie als so etwas wie eine Tempeljungfrau am Jerusalemer Tempel beschäftigt war. (Vermutlich war sie die einzige in der ganzen Heilsgeschichte, die diesen Job innehatte.) Ihre Eltern, Mutter Anna und Vater Joachim, hatten aufgrund von höchst wundersamen und wunderbaren Ereignissen um ihre Schwangerschaft und Geburt gemerkt, dass mit diesem Kind etwas nicht so war wie bei anderen. Dass es sogar unbefleckt empfangen war, wussten sie allerdings nicht. Und deswegen musste das Kind auf alle Fälle sauber bleiben. Behufs dieses Zweckes gaben sie das dreijährige kleine Mädchen dem Jerusalemer Tempel und seiner Priesterschaft in Obhut.
Das war damals ohne Gefährdung des Kindswohls möglich, ergänzte der Historisch-Kritische, weil es noch ziemlich genau 1988 Jahre dauern sollte, bis in der Folge der 1968er Bewegung erst die Moral der Gesellschaft und dann auch die einiger verrirrter Mitglieder der kirchlichen Elite „an den Arsch ging“, wie der Historisch-Kritische sehr unfein sagte. Dass das und nicht ungesunde Gegebenheiten und Strukturen der Kirche den Nährboden für diese stinkenden „Blumen des Bösen“ ab gab, hat uns dankenswerter Weise Ex-Papst Benedikt XVI. geoffenbart. Und das stimmt sicher, meinte der Tor; denn ein Ex-Papst ist sicher genau so unfehlbar wie ein funktionierender. Verrentung eines Papstes kappt nicht die Online-Verbindung zum Heiligen Geist. Und so waren wir uns alle einig, dass Klein-Maria um das Jahr 20 v.Chr. in dieser kirchlichen Einrichtung sicher war.
Phöbe erzählte weiter, wie Maria dann, als sie in die Pubertät kam, aus Gründen kultischer „Reinheit“ zwölfjährig aus dem Tempel rausflog und flugs mit einem verwitweten, herzensguten, uralten, impotenten und folglich begierdefreien Mann zwangsverlobt und dann zwangsverheiratet wurde, um so ihre Reinheit auf Dauer zu stellen. Aber das will sie bei anderer Gelegenheit näher ausführen, wenn es mal wieder um den Hl. Josef geht. Auf jeden Fall hat Maria so lesen gelernt. Woher Phöbe das weiss? Aus dem „Protoevangelium des Jakobus“. Das ist ein bemerkenswert alter Text, wohl aus der Zeit um 150 n.Chr. Er informiert uns dankenswerter Weise über das Leben Marias sehr genau und füllt so die bedauerlichen Wissenslücken über unsere Promimutter, die die spärlichen Informationen der offiziellen Evangelien lassen.
Der Schlussstein stammt wie auch sein Partner mit dem Erzengel Gabriel (s. letzte Miniatur) etwa aus dem Jahr 1515, und die Bemalung auch aus den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts.
Gabriels wichtigste Post
Don Daniele, liebenswerter Pfarrer in C. in den italienischen Seealpen, vertritt die Meinung, der Tag, an dem der Erzengel Gabriel bei Maria vorbeigeschaut hat, sei der wichtigste Tag der ganzen Weltgeschichte. Seine kleine Kirche ist der „Maria SS. Annunziata“ geweiht, Maria der Angekündigten.
Unser Engel hier ist dieser Gabriel. Er ist etwa 60 cm gross und befindet sich ziemlich hoch oben, an einem Gewölbeschlussstein im spätgotischen Chorumgang vor dem nördlichen Choreingangsraum, also innerhalb des Schöpfungsportals. Er wendet sich an die Jungfrau, die ein paar Meter weg von ihm den Schlussstein in diesem Eingangsraum selber ziert.
Der Ministrant meinte, er hätte einen dick verbundenen Mittelfinger der rechten Hand; aber davon weiss die Verkündigungsgeschichte (Luk 1, 26ff) nichts zu berichten, deswegen schaute er genauer hin und sah, dass er das aufgewickelte Ende eines Spruchbandes in der rechten Hand hat, das im weiteren Verlauf seine Adressatin begrüsst und sich dann locker um den Heroldstab schlingt, den er in der linken Hand hält.
Auf unserem Bild stapelt er tief, wie er es vermutlich auch damals in Nazareth gemacht hat – ein wohlerzogener Oberministrant aus guter Freiburger Familie könnte man meinen, kurz vor dem Abi. Hätte er sein wahres Gesicht und seine wahre Gestalt gezeigt, wäre die Jungfrau vermutlich ohnmächtig vor Schreck von ihrem Kniebänkchen (s. nächste Miniatur) gekippt, so wie es dem Propheten Daniel bei der Begegnung mit ihm passierte (Dan 10,9). Er ist gewaltig, schon nach jüdischer Tradition einer der Erzengel, und er bildet zusammen mit seinen Kollegen Michael, Uriel, Raphael und anderen die Gruppe der sieben höchsten Engel. So ein Briefträger bringt nur wichtigste Post.
Die münsterbausüchtigen Freiburger haben am Vortag zum Fest der Verkündigung des Jahres 1354 den Grundstein für ihren aberwitzigen neuen spätgotischen Chor gelegt, finster entschlossen, den zugegebenermassen etwas kleinen, erst etwa 120 Jahre alten spätromanischen Chor abzureissen. Aber bald ging ihnen das Geld aus, und der Bau stagnierte an die 100 Jahre lang. Erst um 1470 gab es neuen Wind und neues Geld, und so wurde das gewaltige Bauwerk in den nächsten 60 Jahren so ziemlich fertiggestellt (wirklich fertig war das Münster nie). Die Einwölbung des Choreingangsbereichs und damit die Fertigung unseres Schlusssteins erfolgte in den Jahren vor 1515, wie Frau Zumbrink in ihrem schönen Büchlein über die Gewölbeschlusssteine des Münsters vermutet. Wohl im Gedenken an das Datum der Grundsteinlegung wurden die Schlusssteine des Eingangsbereichs mit den zwei Bildern von der Verkündigung geschmückt. Wie unser Engel farblich gefasst war, weiss man nicht; die heutigen schönen Farben, immer wieder mal abgestaubt, stammen aus den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts.